Etienne van der Nest singt in Berlin für seine Nachbarn. So wie der Tenor versuchen Tausende Musizierende seit Beginn der Pandemie, die Corona-Isolation zu überbrücken. © Annette Riedl/dpa/picturedesk.com

Antonia Egel ist Literaturwissenschaftlerin und begeisterte Chorsängerin. Regelmäßig trafen sich die Laiensängerinnen und -sänger des Freiburger Bachchors, in dem Egel (mit Unterbrechungen) seit vielen Jahren mitsingt, zur Probe. – Plötzlich brach eine Pandemie aus, es galten strenge Ausgangsregelungen und mit dem gemeinsamen Singen war es vorbei. Schnell organisierte sich der Chor neu, so wie viele andere auf der ganzen Welt, und überführte das Proben in den virtuellen Raum. Als Zeichen der Solidarität haben sich die Freiburger Sängerinnen und Sänger im Frühjahr 2020 mit ihrem israelischen Partnerchor zusammengetan und „Shalom aleichem“ auf Youtube veröffentlicht.

Musik verbindet, sie macht Freude, aber auch Mut. Musik ist und bleibt ein Seelentröster in schwierigen Zeiten, wie das Gemeinschaftsprojekt des Freiburger Bachchors und des Mayaan Choir aus Tel Aviv zeigt. Ja Musik wirkt sogar wie ein Antidepressivum, sagt die Forschung. Das dürfte auch erklären, warum sie die Corona-Krise nicht nur überlebt hat, sondern wesentlich zur Verbundenheit der Menschen beigetragen hat. Virtuelle Aufführungen und spontane Fensterkonzerte haben uns beim Ausbruch der Pandemie Zuversicht und Halt gegeben. Heute, ein Jahr später, sind diese Events bereits zu einem ikonischen Bild der Covid-19-Pandemie geworden.

Der Einzelne versus die Gesellschaft

Das Partnerschaftsprojekt mit dem Chor aus Israel war auch für Antonia Egel ein „totaler Lichtblick“. „Es hat mir gezeigt, dass der Chor etwas überbrücken kann, das vielleicht andere Medien schwerer können.“ Für die Wissenschaftlerin ist es vor allem auch ein Beleg ihrer Forschungsthese, die das Politische des Chors im Drama des 20. Jahrhunderts in den Fokus nimmt. „Im Chor zeigt sich das Politische – auf der Bühne ebenso wie in unserem täglichen Leben“, sagt Antonia Egel. Fest steht, ein Chor braucht jede einzelne, möglichst gut ausgebildete Stimme, die so eigenverantwortlich wie möglich singt, um dann als Chor im gemeinsamen Klang über die einzelne Stimme hinauszuwachsen. Wie viel Wir können wir sein, ohne uns selbst komplett zu verlieren, und wie viel Ich muss ich bleiben, um mich in das Wir einfügen zu können und handlungsfähig zu bleiben? Diese Fragen werden im Chor schon seit der Antike verhandelt. Für Aristoteles war er ein Modell für den Staat.

Rückbezug auf Musiktradition als gemeinsames Element

Im politischen Gefüge des dramatischen 20. Jahrhunderts wächst die Spannung zwischen den beiden Extremen von Individualität und Kollektivität. In totalitären Systemen wurde der Chor auch instrumentalisiert, auf der Theaterbühne wurde er zum politischen Raum. Ein Paradebeispiel dafür sind die Aufführungen Bertolt Brechts. „Jahrzehnte später greift etwa die Autorin Elfriede Jelinek das auf und deutet es zeitgenössisch um“, erklärt Egel, deren Forschungsprojekt durch den Wissenschaftsfonds FWF gefördert wurde. „Bei ihr läuft es, ähnlich wie bei Brecht, darauf hinaus, dass eine Masse dargestellt wird und der Einzelne entweder unter die Räder kommt oder als Individuum nicht mehr gilt.“

Anders ist es bei Jelineks Zeitgenossen Peter Handke, wie Antonia Egels Textanalysen zeigen. Bei Handke ist der Einzelne wichtig und steht im Kontext von Vielen. „Ich habe in dem Forschungsprojekt kritisch hinterfragt, ob in einer Gruppe immer alle mit einer Stimme sprechen, und gesehen, dass das nicht so sein muss. Zum Beispiel bin ich auch bei Einar Schleef fündig geworden, der zwar wegen des kollektiven Anscheins seiner Chöre viel kritisiert wurde. Es gibt solche bei ihm, aber auch das Nachdenken über das Verhältnis vom Einzelnen zum Chor.“ Das hat die Forscherin unter anderem an Bachs Passionen festgemacht. Schleef und viele andere Regisseure und Autorinnen würden die antike Tradition immer wieder aufgreifen und von der Musik ausgehend denken. Auch bei Jelinek findet man etwa das Requiem von Brahms verarbeitet. „Das Theater des 20. Jahrhunderts hat ganz viel mit Musiktradition zu tun, das war für mich ein überraschendes Ergebnis“, betont die Literaturwissenschaftlerin.

Der Chor als Modell für die moderne Gesellschaft

Kann man den Chor, auf heutige Demokratien umgelegt, auch als Modell für eine offene und pluralistische Gesellschaft sehen? Antonia Egel ist davon überzeugt. In einer demokratischen Gesellschaft trägt der Einzelne sowohl Verantwortung für sich als auch für das Gemeinwesen: „Das ist eine hochkomplizierte politische Geschichte, die wir im Grunde jeden Tag austarieren müssen.“ Immer geht es hier auch um die Frage, wer den öffentlichen Raum bestimmt.

Dabei kommt Beethovens berühmter 9. Sinfonie und dem Schlusschor mit der „Ode an die Freude“ eine besondere Rolle zu. Als offizielle Hymne der Europäischen Union steht die Ode für Humanismus, für Aufklärung und Völkerverständigung. Vor diesem Hintergrund sind seit 2012 Beethoven-Flashmobs im Internet populär geworden. Und als 2016 der Verein Pulse of Europe erstmals seine Stimme gegen den wachsenden Nationalismus in der EU erhob, gab es eine direkte Verbindung zur (europäischen) Politik. Die Veranstaltungen von Pulse of Europe sind inzwischen berühmt und ein wichtiges Forum für politisch engagierte Bürgerinnen und Bürger geworden – jede und jeder kann mitmachen. Viele der Aktionen klingen musikalisch mit der Beethoven-Ode aus.


Zur Person

Antonia Egel hat Germanistik und Geschichte in Freiburg im Breisgau studiert und wurde dort mit einer Arbeit über Rilkes musikalische Poetik promoviert. Sie hatte Forschungsaufenthalte in Japan, Italien und den USA. Das interdisziplinäre Forschungsprojekt „Der Chor im Drama des 20. Jahrhunderts“ (2018–2019) hat Egel an der Universität Salzburg durchgeführt, gefördert durch ein Lise-Meitner-Stipendium des Wissenschaftsfonds FWF. Demnächst wird daraus die Habilitationsschrift der Literaturwissenschaftlerin im Rombach Verlag erscheinen.


Publikationen und Beiträge

Antonia Egel: ‘Pulse of Europe’ – Flash Mob – Symphony. Schiller’s ‘Ode to Joy’ and Beethoven’s ‘Ninth Symphony’ as Soundtrack at Public ‘Stagings’ of Europe, in: Forum Modernes Theater, Bd. 31, 2020

Antonia Egel: Politik im Lied. Chorische Inszenierung und politisches Handeln am Beispiel der EU, Beethovens und Brechts, in: Günter Figal, Bernhard Zimmermann (Hg.): Internationales Jahrbuch für Hermeneutik – Schwerpunkt: Pluralität, Bd. 19, Mohr Siebeck 2020

Antonia Egel: „chor oh“. Bernhard und Jelinek – Sprechen im Chor?, in: Elfriede Jelinek und Thomas Bernhard, hg.v. Bastian Reinert und Clemens Götze, De Gruyter 2019

Viele Stimmen – Ein Klang. Wieviel Gemeinschaft ist ein Chor? Hannes Reich, künstlerischer Leiter des Freiburger Bachchores, im Gespräch mit Antonia Egel (Preprint 2020, pdf)