Der „Atlas of Torture“ lenkt den Blick auf das dĂŒstere Bild weltweit praktizierter Folter. Die Website setzt dem Informationen, Austausch und Expertise zu FolterprĂ€vention entgegen. © Asael Peña/Unsplash

Ein Klick auf die Projektlandkarte der Website Atlas of Torture wirft eine Liste von 11 Ergebnissen fĂŒr Österreich aus. Ihre Angaben fĂŒhren in das Ludwig Boltzmann Institut fĂŒr Grund- und Menschenrechte in Wien, den Herausgebern des „Folter-Atlas“. Und es ĂŒberrascht vielleicht ein wenig, aber auch hier beschĂ€ftigt die Corona-Pandemie die Expertenteams. Derzeit, so zeigt die Ergebnisliste, wird am Institut gemeinsam mit Partnern in Österreich, Italien und Deutschland erhoben, wie es Menschen mit psychischen Erkrankungen und geistigen Behinderungen im Lichte der Covid-19-Maßnahmen im Strafvollzug ergeht. Doch das eigentliche HerzstĂŒck der Online-Plattform, die mit UnterstĂŒtzung des Wissenschaftsfonds FWF in den vergangenen drei Jahren aufgebaut wurde, ist das umfangreiche und frei zugĂ€ngliche Dokumentenarchiv. Knapp 2.000 Papiere umfasst die Datenbank derzeit, die bis in das Jahr 1986 zurĂŒckreicht. Zu finden sind einschlĂ€gige Publikationen von Menschenrechtsorganisationen, alles rund um das Völkerrecht und das Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen Folter, Protokolle von Untersuchungsverfahren und Kommentare sowie Dokumente zu thematischen Fragen wie zum Beispiel zu den Themen Freiheitsentzug und geschlechtsspezifische Gewalt.

GebĂŒndeltes Fachwissen frei zugĂ€nglich

Die grĂ¶ĂŸte Datenbank weltweit zur VerhĂŒtung von Folter und Misshandlung baut auf dem langjĂ€hrigen Wissen des Instituts und dessen MitgrĂŒnder Manfred Nowak auf. Gemeinsam mit Moritz Birk und Giuliana Monina ist Nowak unter anderem Herausgeber des Kommentars zur UN-Konvention gegen Folter und Misshandlung. 2019 ist die nun zweite ĂŒberarbeitete und vom FWF geförderte Ausgabe bei Oxford University Press erschienen. Dieses gebĂŒndelte Fachwissen hat ein Expertenteam unter der Koordination von Giuliana Monina mit dem „Atlas of Torture“ einem breiten Publikum zugĂ€nglich gemacht. Das Ziel ist, sowohl Expertengruppen als auch Praktikerinnen und Praktiker besser zu vernetzen, den fachlichen Austausch zu fördern und das Thema stĂ€rker sichtbar zu machen. Auch fĂŒr politische EntscheidungstrĂ€ger kann der digitale Atlas fundierte Grundlagen liefern. „Wir haben immer wieder die Erfahrung gemacht, dass trotz der vielen Organisationen in dem Bereich und der FĂŒlle an Materialien der Zugang zu relevanten Informationen fehlt“, sagt Giuliana Monina.

Trotz Verbots Folter an der Tagesordnung

Obwohl Folter laut dem Völkerrecht verboten ist und derzeit 166 Staaten die UN-Antifolterkonvention ratifiziert haben, erfahren Menschen in fast allen LĂ€ndern der Welt nach wie vor physische und psychische Misshandlungen. Weltweit passieren die schwersten Menschenrechtsverletzungen im Rahmen von bewaffneten Konflikten, wie sie aktuell etwa in Syrien, im Irak, in Afghanistan, Libyen oder im Kongo stattfinden. Daneben sind Folter und Misshandlung in Diktaturen wie Nord-Korea, dem Iran oder in Saudi-Arabien gelebte RealitĂ€t. „In Lateinamerika ist derzeit Venezuela ein Beispiel schwerer Menschenrechtsverletzungen. Aber auch in den USA ist die Situation nicht gerade gut, wenn man an das Fehlen sozialer Menschenrechte denkt, an die Polizeigewalt, an Diskriminierung von Minderheiten und die schlimmen Haftbedingungen“, berichtet Manfred Nowak. Der ehemalige UNO-Sonderberichterstatter fĂŒr Folter hat in dieser Funktion zahlreiche Haftanstalten auf der ganzen Welt besucht und Tausende Interviews mit HĂ€ftlingen gefĂŒhrt. Denn GefĂ€ngnisse sind die Orte, wo am meisten gefoltert wird.

JubilÀum und Gedenktag

UN-Menschenrechtskampagne 2020

Vor 70 Jahren, am 4. November 1950, wurde die EuropĂ€ische Menschenrechtskonvention in Rom unterzeichnet. Die Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten enthĂ€lt einen Katalog von Grund- und Menschenrechten und wurde von allen Mitgliedsstaaten des Europarats unterzeichnet. Über ihre Umsetzung wacht der EuropĂ€ische Gerichtshof fĂŒr Menschenrechte in Straßburg.

Der Tag der Menschenrechte wird weltweit am 10. Dezember gefeiert. Er erinnert an die Allgemeine ErklÀrung der Menschenrechte, die am 10. Dezember 1948 durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet wurde.

Keine AusnahmefĂ€lle in Demokratien Auch im demokratischen Europa werden Grund- und Menschenrechte immer wieder verletzt. Aktuell erleben es die Menschen in Weißrussland, die trotz massiver Polizeigewalt auf die Straße gehen, um nach einem umstrittenen Wahlergebnis gegen Staatschef Lukaschenko und seine diktatorische FĂŒhrung des Landes zu demonstrieren. In der EuropĂ€ischen Union wiederum bauen aktuell Ungarn und Polen zusehends Menschenrechte und demokratische VerhĂ€ltnisse ab. Die Forschung kann solche MissstĂ€nde aufdecken, dokumentieren, Handlungsempfehlungen ableiten und, wie im Projekt des digitalen Folter-Atlas, fĂŒr alle sichtbar machen. Doch was braucht es noch im Kampf gegen Missachtung der Grund- und Menschenrechte, wenn Konventionen und Rechtsnormen nicht eingehalten werden? „Wirkungsvolle Maßnahmen im Rahmen von Gewahrsam und Haft sind Zugang zu AnwĂ€lten und Ärzten zu ermöglichen sowie das Recht, Dritte zu benachrichtigen“, sagt Monina.  Weiters hĂ€tten sich investigative Interviewmethoden bewĂ€hrt, so die Forscherin. Ebenso mĂŒsste beispielsweise durch Folter verfĂ€lschtes Beweismaterial aus Gerichtsverfahren ausgeschlossen werden. UnabhĂ€ngige Behörden gegen Polizeigewalt Beispiele fĂŒr Menschenrechtsverletzungen gibt es ĂŒbrigens auch in Österreich einige. Manfred Nowak zĂ€hlt sie auf: „PolizeiĂŒbergriffe, die nach wie vor von keiner unabhĂ€ngigen Untersuchungsinstanz aufgeklĂ€rt werden und daher auch nur in ganz seltenen FĂ€llen zu strafrechtlichen Konsequenzen fĂŒhren; schlechte Haftbedingungen in ĂŒberfĂŒllten GefĂ€ngnissen mit zu wenig Personal, die restriktive Asyl- und Migrationspolitik oder die Aushöhlung sozialer Rechte am Beispiel der Mindestsicherung.“ Alle diese RechtsĂŒbertretungen wĂŒrden durch das Fehlen wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Rechte in der österreichischen Bundesverfassung erleichtert, erklĂ€rt Nowak. Experten wie er fordern etwa seit Jahren die Einrichtung einer unabhĂ€ngigen Behörde zur Untersuchung von VorwĂŒrfen der Folter und Misshandlung durch die Polizei –, noch gibt es sie nicht. 7 Millionen Kinder eingesperrt Zuletzt intensiv auseinandergesetzt hat sich Manfred Nowak mit einem anderen zentralen Menschenrechtsthema, das kaum in die Öffentlichkeit durchdringt. Im Auftrag der Vereinten Nationen hat er 2019 eine Studie ĂŒber Kinder im Freiheitsentzug prĂ€sentiert. JĂ€hrlich befinden sich mehr als sieben Millionen Kinder in GefĂ€ngnissen, in Polizei- und Migrationshaft oder werden in Heimen und WaisenhĂ€usern festgehalten, so der Befund. „Ich bemĂŒhe mich derzeit, diese Studie möglichst weit zu verbreiten und die Staaten davon zu ĂŒberzeugen, dass sie nationale AktionsplĂ€ne zur Umsetzung dieser UNO-Studie ausarbeiten sollten, mit dem Ziel, dass möglichst wenige Kinder eingesperrt werden“, sagt Nowak und ergĂ€nzt: „Die Corona-Pandemie wĂ€re ein guter Anlass, Kinder aus Haftanstalten zu entlassen.“ Die Notwendigkeit einer effektiven Umsetzung der Empfehlungen der UNO-Studie auf nationaler Ebene hat auch das Forscherteam des Boltzmann Instituts um den Kinderrechtsexperten Helmut Sax erkannt. Unter seiner Leitung wird derzeit ein nationales Nachfolgeprojekt zum Freiheitsentzug von Kindern in Österreich durchgefĂŒhrt, das die Umsetzung von Alternativen zum Freiheitsentzug verstĂ€rken soll.


Zu den Personen Manfred Nowak war zwischen 2004 und 2010 Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen ĂŒber Folter. Der Jurist ist MitgrĂŒnder des 1992 eröffneten Ludwig Boltzmann Instituts fĂŒr Grund- und Menschenrechte in Wien. Neben zahlreichen Funktionen als Berater und Ermittler ist der international gefragte Experte GeneralsekretĂ€r des Global Campus of Human Rights mit Sitz in Venedig. Er ist Autor von ĂŒber 600 Publikationen. Giuliana Monina leitet die Abteilung „MenschenwĂŒrde und öffentliche Sicherheit“ am Ludwig Boltzmann Institut fĂŒr Grund- und Menschenrechte und ist Koordinatorin der 2020 fertiggestellten Website „Atlas of Torture“. Monina berĂ€t und forscht im Bereich der Menschenrechte, insbesondere zu Folter und Verfahrensrechten.


Website: atlas-of-torture.org Publikation: Nowak, Manfred; Birk, Moritz; Monina, Giuliana (Hg.): The United Nations Convention Against Torture and its Optional Protocol: A Commentary, Oxford University Press 2019