Antisemitisches Graffiti entlang der Mauer eines Gehwegs, Salzburg 2016. © Adam Fagen/flickr

„Obwohl die Shoah in vielerlei Hinsicht eine entscheidende Zäsur bedeutete, waren nationalsozialistische Gesinnungen und Antisemitismus nach 1945 nicht spurlos verschwunden, sondern lebten in verschiedenen Formen und Bereichen fort“, erzählt Margit Reiter im Interview mit scilog. In einem bis Ende 2018 laufenden Forschungsprojekt ist die Historikerin der Universität Wien der Frage nachgegangen, wie sich ehemalige Träger des NS-Regimes nach dem Ende des Krieges von 1945 bis 1960 politisch positionierten und ihre Ideologien weiterverfolgten. Gefördert durch den Wissenschaftsfonds FWF, hat die Wissenschafterin das sogenannte „Ehemaligen“-Milieu damit erstmals systematisch untersucht. Dabei ist es Margit Reiter gelungen, auch neue Quellen zu erschließen und aufzuarbeiten, wie etwa den Nachlass des ersten Obmanns der FPÖ, Anton Reinthaller, der ein maßgeblicher Player in diesem Umfeld war. Aus Reinthallers Nachlass und vielen weiteren Quellen, die von NS-Dokumenten, Entnazifizierungsakten und Material zum Internierungslager Glasenbach über Memoiren ehemaliger Nazis bis zu Parlamentsprotokollen und Parteiakten reichen, hat Reiter ein genaues Bild des sozialen Umfeldes der „Ehemaligen“ rekonstruiert. Sie hat die personellen Netzwerke aufgezeigt, die oft zurück bis in die 1930er-Jahre reichten und nach 1945 weiterexistierten. So pflegte etwa Reinthaller als illegaler Nationalsozialist auch Kontakte zu Christlichsozialen, die ihm nach 1945 zugutekamen. 1938 machte er als Minister NS-Karriere. Reinthaller wurde schließlich 1950 in einem Volksgerichtsprozess verurteilt, allerdings 1953 begnadigt und war ab diesem Zeitpunkt wieder politisch aktiv. „Die mittlerweile entnazifizierten gesinnungstreuen ‚Ehemaligen‘ konnten nun wieder ungehindert agieren“, sagt Reiter. Sie wandten sich von der 1949 gegründeten Vorgängerpartei, dem Verein der Unabhängigen (VdU), ab und gründeten 1956 die FPÖ unter dem Motto „Glaube, Treue, Opferbereitschaft“.

„Ehemalige“ formieren sich neu

Reine Parteigeschichte will die Historikerin damit jedoch nicht schreiben. Vielmehr interessiert sie sich für die Frage, wie sich besonders gesinnungstreue Nationalsozialisten politisch neu formierten, wer Platz im VdU und in der FPÖ erhielt und wer nicht. „Das nationale Lager war keineswegs homogen, es gab unterschiedliche Positionen und viele Kämpfe. Die Grenzen zwischen ‚liberal‘ und ‚national‘ waren oft fließend“, relativiert Reiter. Schlussendlich sei es aber weniger um die Frage gegangen, ob jemand zu extrem sei, als vielmehr um strategische Überlegungen vor dem Hintergrund der Frage, wer das Image der Partei stärke und wer nicht.

Antisemitismus kein Randphänomen

Spätestens ab 1957 war die Entnazifizierung wieder rückgängig gemacht, viele „Ehemalige“ entschädigt und rehabilitiert. „Sie erreichten all das, was den Juden nur teilweise oder nicht zugestanden wurde“, berichtet Reiter. Der Antisemitismus lebte fort und war auch in den öffentlichen Diskussionen ziemlich präsent. Diese Diskurse reichten vom alten unverbrämten Antisemitismus im eigenen Umfeld bis zu neuen Formen etwa der Schuldabwehr (Täter-Opfer-Umkehr) und allen möglichen Arten von Aufrechnung. Später wurden antisemitische Haltungen vor allem indirekt durch wohlverstandene Codewörter weiter tradiert, wie „die Emigranten“, „Ostküste“ oder „Neo-Amerikaner“. – Eine Praxis, die sich bis in die Gegenwart gehalten hat und aktuell eine neue Dynamik erhält, „so im Fall der rechten Kampagne gegen den ungarisch-amerikanischen Investor George Soros“, erinnert Reiter. „Überspitzt formuliert: Es gab einen Lernprozess, was man sagen darf und was nicht.“

Ideologische Kontinuitäten

Dass das Verhältnis zum Nationalsozialismus in Österreich nie umfassend aufgearbeitet wurde, liege auch daran, dass im Nachkriegsösterreich im Vergleich zu Deutschland ein starkes politische Regulativ von oben fehlte, erklärt die FWF-Projektleiterin weiter. Parteipolitisches Taktieren der beiden Großparteien SPÖ und ÖVP standen auch schon damals im Vordergrund. Eine vierte Partei sollte damals das jeweilige andere Lager schwächen, so die Hoffnung. Daher hat es auch einen klaren Bruch mit der deutschnationalen Vergangenheit in dieser Form in Österreich nie gegeben. Im Gegenteil, die offizielle und gesellschaftliche Haltung zum Nationalsozialismus gingen ziemlich konform. „Deshalb hat es meiner Meinung nach auch so gut funktioniert“, sagt die Historikerin der Uni Wien. Die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit im Kontext Österreichs ist für Margit Reiter zentral, um ein dunkles Kapitel der Geschichte besser zu verstehen, das das Land bis in die Gegenwart mitprägt. Als nächstes möchte sich die Wissenschafterin den transnationalen Netzwerken von „Ehemaligen“ in Europa widmen. „Beziehungen und Kontakte aus dieser Zeit haben oft über Generationen gehalten.“


Zur Person Margit Reiter lehrt und forscht am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien. Die Historikerin war 2016 Fellow am Zentrum für Holocaust-Studien in München. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Antisemitismus und Antiamerikanismus, Nationalsozialismus und NS-Nachgeschichte sowie Gedächtnisgeschichte. 2019 erscheint im Wallstein Verlag eine Monografie aus dem Projekt über die „Ehemaligen nach 1945“.


Publikationen

Margit Reiter (Hg.): Die „Ehemaligen“: Politische Reorganisation und Reintegration von ehemaligen NationalsozialistInnen in Österreich nach 1945, Zeitgeschichte 44 Heft 3, 2017
Margit Reiter: National“ versus „liberal“? Politische Konfliktlinien und Deutungskämpfe im Verband der Unabhängigen (VdU) und in der FPÖ, in: Heuss-Forum, Theodor-Heuss- Kolloquium 2017, pdf
Margit Reiter: Die „Ehemaligen“ nach 1945 – Selbstpräsentationen, Antisemitismus und Antiamerikanismus, in: Lucile Dreidemy et al (Hg.), Bananen, Cola, Zeitgeschichte: Oliver Rathkolb und das lange 20. Jahrhundert, Festschrift für Oliver Rathkolb, 2 Bände, Wien – Köln – Weimar 2015, S. 575–589.