Das Milieu der âEhemaligenâ in Ăsterreich

âObwohl die Shoah in vielerlei Hinsicht eine entscheidende ZĂ€sur bedeutete, waren nationalsozialistische Gesinnungen und Antisemitismus nach 1945 nicht spurlos verschwunden, sondern lebten in verschiedenen Formen und Bereichen fortâ, erzĂ€hlt Margit Reiter im Interview mit scilog. In einem bis Ende 2018 laufenden Forschungsprojekt ist die Historikerin der UniversitĂ€t Wien der Frage nachgegangen, wie sich ehemalige TrĂ€ger des NS-Regimes nach dem Ende des Krieges von 1945 bis 1960 politisch positionierten und ihre Ideologien weiterverfolgten. Gefördert durch den Wissenschaftsfonds FWF, hat die Wissenschafterin das sogenannte âEhemaligenâ-Milieu damit erstmals systematisch untersucht. Dabei ist es Margit Reiter gelungen, auch neue Quellen zu erschlieĂen und aufzuarbeiten, wie etwa den Nachlass des ersten Obmanns der FPĂ, Anton Reinthaller, der ein maĂgeblicher Player in diesem Umfeld war.
Aus Reinthallers Nachlass und vielen weiteren Quellen, die von NS-Dokumenten, Entnazifizierungsakten und Material zum Internierungslager Glasenbach ĂŒber Memoiren ehemaliger Nazis bis zu Parlamentsprotokollen und Parteiakten reichen, hat Reiter ein genaues Bild des sozialen Umfeldes der âEhemaligenâ rekonstruiert. Sie hat die personellen Netzwerke aufgezeigt, die oft zurĂŒck bis in die 1930er-Jahre reichten und nach 1945 weiterexistierten. So pflegte etwa Reinthaller als illegaler Nationalsozialist auch Kontakte zu Christlichsozialen, die ihm nach 1945 zugutekamen. 1938 machte er als Minister NS-Karriere. Reinthaller wurde schlieĂlich 1950 in einem Volksgerichtsprozess verurteilt, allerdings 1953 begnadigt und war ab diesem Zeitpunkt wieder politisch aktiv. âDie mittlerweile entnazifizierten gesinnungstreuen âEhemaligenâ konnten nun wieder ungehindert agierenâ, sagt Reiter. Sie wandten sich von der 1949 gegrĂŒndeten VorgĂ€ngerpartei, dem Verein der UnabhĂ€ngigen (VdU), ab und grĂŒndeten 1956 die FPĂ unter dem Motto âGlaube, Treue, Opferbereitschaftâ.
âEhemaligeâ formieren sich neu
Reine Parteigeschichte will die Historikerin damit jedoch nicht schreiben. Vielmehr interessiert sie sich fĂŒr die Frage, wie sich besonders gesinnungstreue Nationalsozialisten politisch neu formierten, wer Platz im VdU und in der FPĂ erhielt und wer nicht. âDas nationale Lager war keineswegs homogen, es gab unterschiedliche Positionen und viele KĂ€mpfe. Die Grenzen zwischen âliberalâ und ânationalâ waren oft flieĂendâ, relativiert Reiter. Schlussendlich sei es aber weniger um die Frage gegangen, ob jemand zu extrem sei, als vielmehr um strategische Ăberlegungen vor dem Hintergrund der Frage, wer das Image der Partei stĂ€rke und wer nicht.
Antisemitismus kein RandphÀnomen
SpĂ€testens ab 1957 war die Entnazifizierung wieder rĂŒckgĂ€ngig gemacht, viele âEhemaligeâ entschĂ€digt und rehabilitiert. âSie erreichten all das, was den Juden nur teilweise oder nicht zugestanden wurdeâ, berichtet Reiter. Der Antisemitismus lebte fort und war auch in den öffentlichen Diskussionen ziemlich prĂ€sent. Diese Diskurse reichten vom alten unverbrĂ€mten Antisemitismus im eigenen Umfeld bis zu neuen Formen etwa der Schuldabwehr (TĂ€ter-Opfer-Umkehr) und allen möglichen Arten von Aufrechnung. SpĂ€ter wurden antisemitische Haltungen vor allem indirekt durch wohlverstandene Codewörter weiter tradiert, wie âdie Emigrantenâ, âOstkĂŒsteâ oder âNeo-Amerikanerâ. â Eine Praxis, die sich bis in die Gegenwart gehalten hat und aktuell eine neue Dynamik erhĂ€lt, âso im Fall der rechten Kampagne gegen den ungarisch-amerikanischen Investor George Sorosâ, erinnert Reiter. âĂberspitzt formuliert: Es gab einen Lernprozess, was man sagen darf und was nicht.â
Ideologische KontinuitÀten
Dass das VerhĂ€ltnis zum Nationalsozialismus in Ăsterreich nie umfassend aufgearbeitet wurde, liege auch daran, dass im Nachkriegsösterreich im Vergleich zu Deutschland ein starkes politische Regulativ von oben fehlte, erklĂ€rt die FWF-Projektleiterin weiter. Parteipolitisches Taktieren der beiden GroĂparteien SPĂ und ĂVP standen auch schon damals im Vordergrund. Eine vierte Partei sollte damals das jeweilige andere Lager schwĂ€chen, so die Hoffnung. Daher hat es auch einen klaren Bruch mit der deutschnationalen Vergangenheit in dieser Form in Ăsterreich nie gegeben.
Im Gegenteil, die offizielle und gesellschaftliche Haltung zum Nationalsozialismus gingen ziemlich konform. âDeshalb hat es meiner Meinung nach auch so gut funktioniertâ, sagt die Historikerin der Uni Wien. Die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit im Kontext Ăsterreichs ist fĂŒr Margit Reiter zentral, um ein dunkles Kapitel der Geschichte besser zu verstehen, das das Land bis in die Gegenwart mitprĂ€gt. Als nĂ€chstes möchte sich die Wissenschafterin den transnationalen Netzwerken von âEhemaligenâ in Europa widmen. âBeziehungen und Kontakte aus dieser Zeit haben oft ĂŒber Generationen gehalten.â
Zur Person
Margit Reiter lehrt und forscht am Institut fĂŒr Zeitgeschichte der UniversitĂ€t Wien. Die Historikerin war 2016 Fellow am Zentrum fĂŒr Holocaust-Studien in MĂŒnchen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Antisemitismus und Antiamerikanismus, Nationalsozialismus und NS-Nachgeschichte sowie GedĂ€chtnisgeschichte. 2019 erscheint im Wallstein Verlag eine Monografie aus dem Projekt ĂŒber die âEhemaligen nach 1945â.
Publikationen
Die âEhemaligenâ: Politische Reorganisation und Reintegration von ehemaligen NationalsozialistInnen in Ăsterreich nach 1945, Zeitgeschichte 44 Heft 3, 2017
Nationalâ versus âliberalâ? Politische Konfliktlinien und DeutungskaÌmpfe im Verband der UnabhaÌngigen (VdU) und in der FPOÌ, in: Heuss-Forum, Theodor-Heuss- Kolloquium 2017, pdf
Die âEhemaligenâ nach 1945 â SelbstprĂ€sentationen, Antisemitismus und Antiamerikanismus, in: Lucile Dreidemy et al (Hg.), Bananen, Cola, Zeitgeschichte: Oliver Rathkolb und das lange 20. Jahrhundert, Festschrift fĂŒr Oliver Rathkolb, 2 BĂ€nde, Wien â Köln â Weimar 2015