Nicolas Singewald
Nicolas Singewald erforscht seit Jahrzehnten die Ursachen für Angststörungen um neue, gezielte Therapieformen zu entwickeln. Ein besonderes Anliegen ist ihm dabei, dass in Zukunft vermehrt Medikamente entwickelt werden, die individuell auf die Patient:innen abgestimmt sind. © FWF/Dominik Pfeifer

Das Herz rast, der Brustkorb wird eng, der Atem wird schneller, die Hände schwitzen. Menschen, die zum ersten Mal eine Panikattacke erleiden, landen meist in der Notfallambulanz und glauben, gerade einen Herzinfarkt zu erleiden und zu sterben. Wegen der heftigen körperlichen Symptome haben sie mitunter eine lange Odyssee durch sämtliche medizinische Instanzen hinter sich, bis sie endlich therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen.

Schätzungen zufolge leiden in Österreich 16 Prozent der Bevölkerung an einer behandlungsbedürftigen Angstkrankheit. Eine genaue statistische Erfassung existiert derzeit noch nicht. Frauen sind deutlich häufiger betroffen. Die Diagnose erfolgt meist über den Hausarzt. Verschrieben werden oft Antidepressiva – und das zu häufig und zu schnell, meint Nicolas Singewald. „Bei milden Formen von Angst und Depressionen haben Studien gezeigt, dass Antidepressiva nicht unbedingt besser wirken als Placebos“, sagt der Leiter der Abteilung für Neuropharmakologie der Universität Innsbruck und warnt, dass man bis heute nicht genau weiß, was Psychopharmaka im Gehirn langfristig bewirken. Deshalb plädiert er für einen Einsatz dieser wichtigen Medikamente nur bei schweren Krankheitsformen, und das auch nur als kurze Intervention und nicht über Jahre hinweg.

Hoher Stresslevel als soziales Phänomen

Einen insgesamt höheren Angst- und Stresslevel kann man heute auch als soziales Phänomen beobachten. Bedrohungen wie der Ukrainekrieg, die Inflation und die Klimakrise sind durch die Berichterstattung in den Medien und die Diskussionen in den sozialen Netzwerken permanent präsent und führen dazu, dass sich Ängste hochschaukeln. Das Problem dabei ist: Wer sich ständig Sorgen macht, aktiviert permanent sein Angstnetzwerk.

Von einer Errungenschaft der Evolution zur Störung

Dabei ist Angst eigentlich eine wichtige Errungenschaft in der Evolution, denn sie hilft uns, Gefahren zu erkennen und Kräfte zu mobilisieren, um entweder zu flüchten oder zu kämpfen. Angst entsteht in entwicklungsgeschichtlich frühen Kerngebieten des Gehirns, dem limbischen System. Dort alarmieren Signale der Sinnesorgane blitzschnell den sogenannten Mandelkern, die Amygdala, die andere Hirnbereiche anregt, den Körper mit Stresshormonen zu überschwemmen. Das löst den archaischen Flucht-oder-Kampf-Reflex aus: Der Puls steigt, die Muskeln erhalten einen Energieschub, Schweißausbrüche machen die Haut glitschig und damit schwer fassbar. Das Denken ist weitgehend ausgeschaltet. Wer überleben will, muss blitzschnell reagieren. Das ist der ursprüngliche Sinn des Programms.

Doch wann läuft dieses System aus dem Ruder? „Ist die Angstreaktion auf die tatsächliche Bedrohungslage zu heftig oder zu lange, oder tritt sie ohne erkennbare Bedrohung auf, dann spricht man von einer Angststörung“, sagt Singewald. Der Pharmakologe erforscht seit Jahrzehnten die Ursachen von pathologischer Angst mit dem Ziel, neue, individualisierte Therapien zu entwickeln. Wie Angststörungen genau entstehen, ist ein sehr komplexes Geschehen, ein Mix aus Vererbung, unbewusstem Lernen und äußeren Reizen.

Herzrasen, Enge im Brustkorb, Atemnot: Eine Panikattacke kann sich anfühlen wie ein Herzinfarkt. © Royalty Free/picturedesk.com

Interaktion von Genen und Umwelt

Neurobiologisch geht man laut Singewald von einer Gen-Umwelt-Interaktion aus. Wobei es kein einzelnes Angst-Gen gibt, sondern sogenannte Kandidatengene, die für ein erhöhtes Erkrankungsrisiko gleichzeitig betroffen sein müssen. Ob eine Angsterkrankung schließlich ausbricht, ist eine Wechselwirkung der genetischen Ausstattung mit bisherigen – oft frühkindlichen – Erfahrungen und dem Lebenswandel.

„Stress spielt eine wichtige Rolle.“ Nicolas Singewald

„Stress spielt eine wichtige Rolle, sowohl als prädisponierender als auch als Trigger-Faktor“, weiß Singewald. Wobei diese Faktoren nicht direkt die Gene beeinflussen, sondern über epigenetische Marker ihre Aktivität steuern, d. h. wie viel vom jeweiligen Genprodukt (Protein) gebildet wird. Spielen diese Mechanismen zusammen, verstellt sich als Folge im Gehirn das Angstnetzwerk. Die zunächst nützliche Angst wird krankhaft und entsteht auch ohne reale Bedrohung.

Die Angst vor der Angst und 500 Formen

Problematisch ist zudem, dass sich oft eine Angst vor der Angst entwickelt und Betroffene versuchen, bestimmte Situationen zu vermeiden, was ihren Alltag belastet und ihre Lebensqualität beeinträchtigt. Unbehandelt können sich Folgeerkrankungen wie Depressionen oder Alkoholsucht entwickeln.

Die Psychologie unterscheidet 500 Formen von Angst. Es gibt spezifische Ängste, wie jene vor bestimmten Tieren oder vor großer Höhe, und unspezifische Ängste, wie Panikstörungen oder die generalisierte Angststörung (GAS), bei der Betroffene ständig mit einem erhöhten Angstniveau leben und sich permanent um alles Mögliche Sorgen machen. Häufig gehen Angststörungen auch mit anderen psychischen Erkrankungen wie Depressionen einher.

Bewegung erhöht Neuroplastizität

Die gängige Therapie beinhaltet Psychotherapie – vor allem kognitive Verhaltenstherapie und Konfrontationstherapie –, Pharmakotherapie und Bewegung. „Gerade bei Angstpatient:innen wirkt jede Form von Bewegung sehr gut“, sagt der Wissenschaftler, „denn sie regt im Gehirn die Neuroplastizität an.“ Neuroplastizität ist die Fähigkeit des Gehirns, sich kontinuierlich zu verändern, sich an verschiedene Reize anzupassen und regional zu wachsen.

„Gerade bei Angststörungen wirkt jede Form von Bewegung sehr gut.“ Nicolas Singewald

Dieser Prozess besteht aus einer Vielzahl von biochemischen und metabolischen Reaktionen. So können wir auf neue Reize und Informationen reagieren und neue neuronale Verbindungen aufbauen. Die Wissenschaft untersucht zunehmend Meditationstechniken mit moderner Bildgebung im Hinblick auf ihre Auswirkungen auf Gehirnfunktion und -struktur.

Yoga und Meditation verändern die Hirnstruktur …

Es wurde gezeigt, dass Meditation und Yoga unter anderem die Ausschüttung von Stresshormonen verringern können. In einer Longitudinalstudie in Kooperation mit der Neuroradiologin Elke Gizewski von der Medizinischen Universität Innsbruck und der Sportwissenschaftlerin und Meditationsexpertin Michaela Waibel wurden über mehrere Wochen gesunde Proband:innen untersucht und man konnte nachweisen, dass atemfokussierte Meditation die Gehirnstruktur verändert. Schon nach sieben Wochen mit regelmäßiger Meditation zeigten sich Veränderungen im Gehirn und eine Verminderung des Angstniveaus. Die graue Hirnsubstanz nahm wie beim Muskeltraining in den aktivierten Arealen zu. Das zeigte sich besonders in den Bereichen der Körperwahrnehmung, in der Konzentrationsfähigkeit und der Aufmerksamkeit. Singewald möchte diese Effekte nun bei Angstpatient:innen untersuchen.

Meditation und Yoga verringern nicht nur die Ausschüttung von Stresshormonen, sondern vergrößern auch die graue Hirnsubstanz und reduzieren Entzündungen. © Royalty Free/picturedesk.com

… und reduzieren Entzündungen

Dieses Wissen könnte künftig in strukturierter Form in der Therapie milder Formen von Angststörungen oder Depressionen, bei denen Antidepressiva nicht unbedingt besser wirken als Placebos, ohne die entsprechenden Nebenwirkungen eingesetzt werden. „Auf dem Gebiet wird weltweit viel geforscht“, sagt Singewald. So habe man beispielsweise auch gesehen, dass Entzündungen, die auch bei Stress-assoziierten Erkrankungen eine Rolle spielen, durch Meditation reduziert werden können.

Positive Emotionen lassen länger leben

Einen Faktor, den der Pharmakologe ebenso verstärkt untersucht, ist die Wirkung positiver Emotionen auf die Neuroplastizität des Gehirns. Eine Studie, die 30.000 Amerikaner:innen mit dem gleichen Stresslevel untersucht hat, konnte zeigen, dass die Art und Weise, wie jemand seinen Stress bewertet, die Erkrankungswahrscheinlichkeit und letztlich die Sterblichkeit beeinflusst. Jene, die den gleichen Stress stärker negativ empfunden haben, starben früher. „Positive Gedanken beruhigen das urzeitliche Angstgehirn. Diese Erkenntnisse werden in Zukunft sehr wichtig“, weiß der Wissenschaftler.

Gerüche beeinflussen unsere Gefühle

Eine neuartige Entwicklung auf dem Gebiet der Pharmakologie ist der Einsatz von Gerüchen bzw. von Pheromon-artigen Neurosteroiden, die derzeit auf angstlösende Wirkungen untersucht werden. Beim Riechen werden ebenfalls sehr alte Gehirnareale angesprochen, die mit dem limbischen, also dem Gefühlssystem des Gehirns, sehr eng verknüpft sind. Gerüche können also direkt Einfluss auf die Gefühlswelt nehmen. „Richtiges Atmen und Riechen waren schon bei Naturvölkern von großer Bedeutung. Überliefertes Wissen kann manchmal später wissenschaftlich erklärt und therapeutisch genützt werden“, erklärt Singewald.

„Die Jungen müssen raus!“ Nicolas Singewald

Psychedelika kommen vermutlich bald zum Einsatz

Auch im Bereich der Psychedelika wird viel geforscht, da sie Neuroplastizität offensichtlich schnell und effektiv anstoßen können. Wichtig dabei ist, dass die Neuroplastizität durch Kombination mit psychotherapeutischen Ansätzen in die richtige Richtung geleitet wird. Bei posttraumatischen Stresserkrankungen etwa habe der Einsatz von MDMA (Ecstasy) bei klinischen Phase-III-Studien positive Ergebnisse gezeigt. Singewald nimmt an, dass dies die erste psychedelische Substanz sein wird, die man klinisch einsetzt. „Die Erwartung ist, dass man die Substanz wenige Male jeweils vor sogenannten Integrationssitzungen nimmt und damit die gleiche Wirkung erzielt wie mit einer wochenlangen Einnahme von Antidepressiva“, erläutert er.

Forschung in Richtung personalisierte Medizin

Dass man – sowohl bei Studien als auch in der Arzneimittelentwicklung – von einem Gesamtkollektiv ausgeht, darin sieht der Pharmakologe eines der größten Probleme. Die Vorstellung, alle über einen Kamm zu scheren und die unterschiedlichen Patient:innen alle mit ein und demselben Medikament heilen zu können, hält er für völlig naiv. „In zwanzig Jahren wird man sagen: Ihr habt alle die gleiche Dosis von demselben Medikament gegeben, auch egal ob Frau oder Mann? Wie unglaublich ist das!“, schlägt er die Hände über dem Kopf zusammen. Gerade Angsterkrankungen sind multifaktoriell und individuell. Voraussetzung für personalisierte Medizin ist jedoch, die richtigen Biomarker zu kennen. An deren Identifikation wird weltweit gearbeitet, auch im Team von Singewald mit seiner Kollegin Simone Sartori.

Grundstein Erwin-Schrödinger-Auslandsaufenthalt

Infiziert mit dem Forschervirus wurde Singewald als Pharmaziestudent während eines Sommerjobs in einem Baseler Hoffmann-La-Roche-Labor. Zu seinem eigenen Forschungsgebiet kam er durch einen vom FWF geförderten Erwin-Schrödinger-Forschungsaufenthalt an der University of Oxford, ein Schritt, den er als Grundstein für seine Karriere bezeichnet. „Die Jungen müssen raus!“, sagt er und unterstreicht, wie wichtig es ist, sich loszulösen und sein eigenes Forschungsthema zu finden. Damals untersuchte er unterschiedliche Substanzen, die sowohl beim Tier als auch beim Menschen Angst auslösen, auf ihre Effekte im Gehirn. Anstoß für seine folgende Karriere nach der Rückkehr an die Universität Innsbruck war 2001 das erste von insgesamt zehn FWF-geförderten Forschungsprojekten, in dem er Stress-assoziierte Erkrankungen wie Angststörungen und Depressionen untersuchte. Was ihn motiviert, auch mit den Niederlagen eines Forscherlebens umzugehen? „Man muss für die Sache brennen“, sagt er.

Zur Person

Nicolas Singewald erforscht an der Universität Innsbruck die neurobiologischen Mechanismen, die zu Erkrankungen wie Angstzuständen, traumabedingten Störungen und Depressionen führen, sowie neue therapeutische Ansätze. Richtungsweisend für seine Forschung war ein vom FWF finanzierter Forschungsaufenthalt an der University of Oxford, Großbritannien.