Wie hĂ€ngen politische Rhetorik, nationale IdentitĂ€t und demokratische Kultur zusammen? Ein FWF-Projekt analysiert antisemitische Rhetorik im Österreichischen Parlament seit 1945. © CC Michal UhlĂĄrik ND 3.0

AusfĂŒhrliche Analysen von Plenardebatten wurden bisher in der Parlamentarismusforschung und in aktuellen Demokratietheorien vernachlĂ€ssigt. Die Politikwissenschafterin Eva Kreisky und ihr Team (Nicolas Bechter, Karin Bischof, Marion Löffler) von der UniversitĂ€t Wien wollen diese LĂŒcke in einem vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Projekt nun schließen. „Antisemitismus als politische Strategie und die Entwicklung der Demokratie“, so der Projekttitel, analysiert antisemitische Rhetorik im Österreichischen Parlament von 1945 bis heute. „Wir gehen von der Hypothese aus, dass sich Antisemitismus als Indikator fĂŒr Demokratieentwicklung eignet, da moderne Demokratien mit gesellschaftlichem Pluralismus umgehen mĂŒssen“, sagt Eva Kreisky. Das parlamentarische Plenum wird dabei als symbolische BĂŒhne verstanden, die aufzeigt, wo die Grenzen des offiziell Sagbaren liegen. „In unserem Projekt untersuchen wir, ob, in welcher Weise, in welchem Ausmaß und in welchen ZeitrĂ€umen Antisemitismus als rhetorisch-politische Strategie im Parlament nach der Shoah noch eingesetzt beziehungsweise wie er modifiziert wurde“, so Kreisky.

Methodik und Umfang

Mit Hilfe eines eigens entwickelten Kategoriensystems, das typische Merkmale von Parlamentsreden berĂŒcksichtigt, durchsucht das Forschungsteam der Uni Wien einen Korpus von rund 3.500 stenografischen Protokollen. Den Detailanalysen vorgeschaltet wird eine Stichwortsuche, die auf antisemitische Äußerungsformen hinfĂŒhrt: „Schlussstrich“, „Rothschild“, „Verhetzung“, „Hochfinanz“ oder „Emigranten“ lauten derartige Schlagworte. Neben inhaltlichen Kriterien wie Themenkonstruktionen, Argumentationsstrategien oder Semantik beziehen die Forscherinnen und Forscher auch Charakteristika von Parlamentsdebatten wie zum Beispiel Ordnungsrufe oder Ethos und Pathos in ihren Analysen mit ein. „In unserem aufwĂ€ndig entwickelten Verfahren geht es nicht darum, den  deliberativen Prozess zu rekonstruieren, der schließlich zu einem Gesetz fĂŒhrt, sondern wir betonen die symbolischen Prozesse, die im Plenum stattfinden. Dies erfolgt in unterschiedlichen Strategien, die man als rhetorische Kampfstrategien bezeichnen kann“, erklĂ€rt Eva Kreisky das Ziel ihrer Grundlagenforschung.

Wachsende Sensibilisierung

Parlamentarische Rhetorik und demokratische Kultur sind eng verknĂŒpft. Das Parlament ist in gesellschaftliche Strukturen eingebunden, die sie einerseits prĂ€gen, von denen sie aber auch geprĂ€gt werden. In diesem Sinne werden auch Thematiken ins Plenum hinein getragen, zum Beispiel in Form der Problematisierung antisemitischer VorfĂ€lle, aber auch Ressentiments. Im Laufe der Zweiten Republik hat sich das VerstĂ€ndnis dessen, was als Antisemitismus gilt, geĂ€ndert. Es zeigt sich eine wachsende Sensibilisierung in den parlamentarischen Debatten, die in Wechselwirkung steht zu gesellschaftlichen Skandalisierungen. Der Vorwurf des Antisemitismus, so zeigt das Fallbeispiel Österreich, ist oft gleichzusetzen mit dem Vorwurf eines mangelnden demokratischen Bewusstseins. „GrundsĂ€tzlich kann man sagen, offener Antisemitismus im Parlament geht nicht mehr“, fasst Kreisky die laufenden Analysen zusammen. Es hĂ€tten sich aber die Kodierungen verfeinert, mit denen antisemitische Anspielungen getĂ€tigt wĂŒrden. Allerdings herrscht im Parlament heute eine besondere SprachsensibilitĂ€t, die auch solche Anspielungen kaum noch unwidersprochen durchgehen lĂ€sst. In dieser Hinsicht mĂŒsse zwischen dem parlamentarischen Plenum und anderen politischen Arenen unterschieden werden.

Österreichisches DemokratieverstĂ€ndnis

Die Konsensorientierung ist ein wichtiger Eckpunkt des demokratischen SelbstverstĂ€ndnisses der österreichischen Parteien nach 1945. Damit seien aber antidemokratische VerdĂ€chtigungen, die aus den Erfahrungen der Zwischenkriegszeit herrĂŒhren, nicht ĂŒberwunden, betont Eva Kreisky. In Österreich gibt es zudem eine Rechtsstaatstradition, die Demokratie auf formale Prozesse reduziert und Wahlen als zentrales Element demokratischer Partizipation versteht. „Dies kann auch als gewisses Misstrauen gegenĂŒber dem ‚verfĂŒhrbaren‘ Volk gedeutet werden“, so die Politikwissenschafterin. Das Besondere am österreichischen Fall als postfaschistische Gesellschaft ist, dass sich Österreich nicht als TĂ€ternation, sondern als „Hitlers erstes Opfer“ verstand. In der Fokussierung auf den „Feind“ rĂŒckten die austrofaschistischen Verbrechen in den Hintergrund. Im Kontext postfaschistischer Gesellschaften spricht die Antisemitismusforschung von sekundĂ€rem Antisemitismus als eine Form, die sich in Schuldabwehr, TĂ€ter-Opfer-Umkehr und VerdrĂ€ngung manifestiert. „Wahrscheinlich gibt es jedoch zahlreiche Ähnlichkeiten mit anderen postfaschistischen Staaten, die bis dato noch wenig untersucht wurden und erst nach dem Ende des Kalten Krieges richtig klar wurden, wie etwa der akute Antisemitismus in Ungarn oder Polen“, resĂŒmiert Eva Kreisky.


Zur Person Eva Kreisky ist Emerita der UniversitĂ€t Wien, wo sie bis 2012 den Lehrstuhl fĂŒr Politische Theorie am Institut fĂŒr Politikwissenschaft innehatte. In ihrer Forschung befasst sich Kreisky unter anderem mit den Themen BĂŒrokratie und Staat, Parlamentarismus, Demokratietheorien und Politik der GeschlechterverhĂ€ltnisse.


Projekt-Homepage http://parlamentsrhetorik.univie.ac.at/ Publikationen

  • Eva Kreisky, Saskia Stachowitsch (Hg.): Judentum und Antisemitismus im österreichischen Parlament, Böhlau Verlag 2016 (in Druck)
  • Bischof, Karin: Emigranten und die Konstruktion des österreichischen Demos in Parlamentsdebatten, erscheint in: Wolfgang Straub und Katharina Prager (Hg.): Bilderbuch-Heimkehr? Remigration im Kontext, Arco Verlag 2016
  • Bischof, Karin: Debatten um die Wirtschafts- und Finanzkrise in österreichischen Printmedien – Antisemitismus, Nationalismus und Kapitalismuskritik, in: Berliner Journal fĂŒr Soziologie (submitted)
  • Löffler, Marion: Demokratische Rede- und Streitkultur im Nationalratsplenum, in: Parlamentsdirektion (Hg.): „Parlament und Parteien: Ein Blick auf Österreich seit 1989“, Symposium im Parlament zum 90. Geburtstag von Wilhelm F. Czerny, Wien 2015, S. 59-64.
  • Löffler, Marion: Restitution: Wiedergutmachung ĂŒbersetzt in die Sprachen der Alliierten. Antisemitische Konnotationen einer Begriffsdebatte, erscheint in: Wolfgang Straub und Katharina Prager (Hg.): Bilderbuch-Heimkehr? Remigration im Kontext, Arco Verlag 2016