Am anderen Ende der Pipeline â Fernpendeln als NormalitĂ€t

Die Abbaugebiete von Erdöl und Erdgas verlagern sich zusehends weiter in den arktischen Norden. Je nach Berechnungsmethode liegen heute etwa 20 Prozent der weltweiten Erdgas- und Erdölreserven und immense LagerstĂ€tten anderer Mineralien unter den Weiten der Arktis. Das hat zur Folge, dass immer mehr BeschĂ€ftigte in der Petroleumindustrie sehr lange Wege auf sich nehmen, um unter extremen Bedingungen, wie sie etwa im Norden Westsibiriens herrschen, auf den abgelegenen FörderstĂ€tten zu arbeiten. Von Moskau nach Novy Urengoy im hohen Norden Russlands sind es rund 2.500 Kilometer. Die so genannte russische Hauptstadt des Erdgases liegt unweit des nördlichen Polarkreises. Genau von dort kommt das russische Erdgas fĂŒr Europa. Immer mehr Arbeiterinnen und Arbeiter aus sĂŒdlichen Regionen erwirtschaften ihr Einkommen âauf Schichtâ. Insgesamt sind in Russland rund eine Million Menschen im Abbau von Erdöl und Erdgas beschĂ€ftigt. Davon sind mehrere Hunderttausend mobile BeschĂ€ftigte. Auch die Zahl der Frauen in der Rohstoffindustrie steigt. Sie arbeiten vor Ort als Ingenieurinnen und in den Dienstleistungsbereichen.
Wanderbewegungen und ihre Auswirkungen
Das Team aus den Anthropologinnen Gertrude Saxinger und Elisabeth Ăfner sowie der Geographin Elena Nuykina, unter der Leitung von Migrationsforscher Heinz FaĂmann, nĂ€herte sich in einem fĂŒnfjĂ€hrigen FWF-Projekt an drei Forschungsorten den komplexen Verflechtungen dieser spezifischen Personalbereitstellungsmethode, die vom Individuum bis auf die Ebene von Regional- und Stadtentwicklung reichen. Es geht um Strategien, die Menschen zur Bewerkstelligung eines solchen multilokalen und mobilen Lebens entwickeln, und wie sie von der Industrie als Humanressourcen in den nordwestsibirischen Peripherien systematisch arrangiert werden. Am Beispiel der zentralrussischen Republik Baschkortostan gingen die österreichischen Forscherinnen und Forscher der Frage nach, welche Auswirkungen solche Wanderbewegungen auf die sozio-ökonomisch eher schwachen Herkunftsregionen der Erdöl- und Erdgasarbeiterinnen und -arbeiter haben. Anhand der nach dem Zerfall der Sowjetunion darniederliegende Kohlebergbaustadt Workuta, wurde gezeigt, wie eine urbane Gemeinschaft als arktischer Verkehrsknotenpunkt und als Verteilerstadt von Fernpendlerinnen und Fernpendlern fĂŒr die noch weiter nördlich gelegenen neuen Abbaugebiete neuen Aufschwung nehmen will. Dabei liefert das Team in zahlreichen Publikationen auf Englisch, Deutsch und Russisch wertvolle Einsichten in die politischen und ökonomischen Dynamiken des heutigen Russland.
Mobiles Leben als NormalitÀt
Die Sozialanthropologin Gertrude Saxinger von der UniversitĂ€t Wien hat in dem interdisziplinĂ€ren Projekt des Wissenschaftsfonds den Fokus auf die Themen ArbeitsmobilitĂ€t und Fernpendeln gelegt und dabei noch kaum berĂŒcksichtigte Sichtweisen der BeschĂ€ftigen, aber auch der Unternehmen und Verwaltung eingeholt. Auf zahlreichen Zugreisen zwischen Moskau und Novy Urengoy hat die Wissenschafterin in den vergangenen Jahren mehr als 25.000 Kilometer gemeinsam mit den Pendlerinnen und Pendlern zurĂŒckgelegt. Ihr Interesse galt dabei der Frage, wie mobiles Leben unter extremen Bedingungen funktioniert; wie die ArbeitskrĂ€fte selbst ihr Leben zwischen zwei oder mehreren Welten wahrnehmen und sich darin zurechtfinden. Fernpendeln nimmt international rapide zu, da es billiger ist, Menschen zum Arbeitsort hin- und wieder wegzubringen, als Siedlungen in neuen Abbaugebieten zu bauen. âDie Fernpendler haben mir vermittelt, dass die Reisen durchaus anstrengend sind, sie aber dennoch zur NormalitĂ€t und zur Gewohnheit werdenâ, erzĂ€hlt Gertrude Saxinger aus ihrer Feldforschung. Im öffentlichen Diskurs, aber auch medial und in der Wissenschaft werde Fernpendeln vielfach als eine nur schwer ertrĂ€gliche und sozial problematische Form des Erwerbslebens dargestellt, erklĂ€rt Saxinger. Die Wissenschafterin hat diese Zuschreibungen der auch als âSchattenbevölkerungâ bezeichnete Gruppe hinterfragt. Ihre Ergebnisse zeigen, dass sich das Leben von Fernpendlerinnen und Fernpendlern nicht zwangslĂ€ufig negativ auf ihr soziales Leben und Umfeld auswirkt. âDie Scheidungsraten liegen im nationalen Durschnittâ, nennt Saxinger ein Beispiel. Vielmehr habe sich gezeigt, dass die Menschen auch unter schwierigen Bedingungen NormalitĂ€t in ihrem mobilen Leben herstellen können.
Leben in verschiedenen Welten
Mehr als die MobilitĂ€t an sich stellt sich das Thema MultilokalitĂ€t als problematisch fĂŒr die ArbeitskrĂ€fte heraus. Sich sinnstiftende AktivitĂ€ten und soziale Umfelder sowohl zu Hause als auch auf Schicht zu schaffen, bedarf einer starken Reflexion und der bewussten Entscheidung fĂŒr diese Lebensform. Was wiederum die Persönlichkeit prĂ€gt. âNicht so sehr die harten MĂ€nner, als die die Fernpendelnden gerne dargestellt werden, bleiben dabei, sondern MĂ€nner und Frauen, die MobilitĂ€t als Teil ihres Erwerbslebens sehen, ohne mit den UmstĂ€nden zu hadern. FĂŒr manche ist es sicherlich Abenteuer, aber fĂŒr die Mehrheit ist es das GefĂŒhl, im Leben etwas zu erreichen und sozial fortzukommenâ, beschreibt Saxinger den flexiblen Umgang vieler Angestellter mit den herausfordernden Bedingungen.
Arbeitsbedingungen und Personalpolitik
Die Zufriedenheit mit dem Leben auf Achse hĂ€ngt auch maĂgeblich von den Arbeitsbedingungen ab. Diese sind bei den groĂen Firmen wie Gazprom oder Rosneft durch KollektivvertrĂ€ge und Betriebsvereinbarungen geregelt und die Zufriedenheit der BeschĂ€ftigten ist groĂ, wie die Untersuchungen zeigen. Der Bereich des Anlagen- und Infrastrukturbaus ist jedoch oft an Generalunternehmer und weit verzweigte Subunternehmen ausgelagert, wo gesetzliche Vorschriften oft nur unzulĂ€nglich eingehalten werden und Korruption vorkommt. âRussische Forschungen in diesem Bereich sind zwar rar, aber werden durchaus von dortigen KollegInnen durchgefĂŒhrt, beispielsweise mit Finanzierung durch die Gewerkschaft.â, so Saxinger.
Internationale Forschungsnetzwerke
2013 organisierte das Projektteam eine Konferenz zum Thema, in der der wissenschaftliche Austausch von Forscherinnen und Forschern aus Russland, Nordamerika, Skandinavien und Australien im Mittelpunkt stand. Fernpendeln ist kein russisches EinzelphĂ€nomen, sondern findet in sĂ€mtlichen Regionen der Welt statt. âDaher sind internationale wissenschaftliche Netzwerke zentral, in die wir durch dieses Projekt nun eingebunden sind. Aber auch Kooperationen mit Firmen, wenn es um die Weiterentwicklung des Fernpendelns als ein System der ArbeitskrĂ€ftebereitstellung geht, sind von Bedeutungâ, betont Saxinger. Das interdisziplinĂ€re FWF-Projekt âLives on the Moveâ wurde unter der Leitung von Professor Heinz FaĂmann am Institut fĂŒr Geographie und Regionalforschung der UniversitĂ€t Wien und am Institut fĂŒr Stadt- und Regionalforschung der Ăsterreichischen Akademie der Wissenschaften von 2010 bis 2015 durchgefĂŒhrt.
Zur Person Gertrude Saxinger arbeitet am Institut fĂŒr Kultur- und Sozialanthropologie der UniversitĂ€t Wien mit dem Fokus auf die Rohstoffindustrie insbesondere in der Arktis. MobilitĂ€t, MultilokalitĂ€t sowie urbane und regionale Dynamiken von Gemeinden in Rohstoffgebieten im globalen Kontext sind dabei zentrale Themen. Ihre Untersuchungen fĂŒhren sie nach Sibirien, Kanada und Skandinavien. Sie ist GrĂŒndungsmitglied des Austrian Polar Research Institute (APRI) und seit 2015 assoziiertes FakultĂ€tsmitglied des Yukon College in Whitehores, Kanada. Im Herbst erscheint ihr Buch zum FWF-Projekt unter dem Titel âUnterwegs â Mobiles Leben in der Erdgas- und Erdölindustrie in Russlands Arktisâ im Böhlau Verlag.