Seelenwanderung als gesellschaftlicher ZĂŒnd- oder Klebstoff

Die Seelenwanderung (auf Arabisch: taqammus) hat etwas Tröstliches. Das PhĂ€nomen ist in der drusischen Glaubensgemeinschaft nicht nur in Heiligen BĂŒchern verankert, sondern gesellschaftlich breit anerkannt. Wenn ein Mensch stirbt, geht seine Seele â manchmal auch Fertigkeiten oder bestimmte CharakterzĂŒge â auf ein Neugeborenes ĂŒber. Der Wortstamm enthĂ€lt das arabische Wort fĂŒr âHemdâ. Die Seele wird gleichsam erneut angezogen. Taqammus hat aber auch einen tragischen Zug. In seinem Forschungsprojekt dokumentiert der Sozialanthropologe Gebhard Fartacek, unterstĂŒtzt vom Wissenschaftsfonds FWF, auch ethnosoziologische Konsequenzen und potenzielle Konflikte, die mit dem Prinzip der Seelenwanderung einhergehen (können).
Wiedergeburt etabliert neue Beziehungen
Die Drusen, eine schiitisch geprĂ€gte ethnisch-religiöse Minderheit, lebt im Nahen Osten verstreut ĂŒber den Libanon, Syrien, Israel/PalĂ€stina und Jordanien sowie in der Diaspora. Projektleiter Fartacek von der Ăsterreichischen Akademie der Wissenschaften nimmt mit seiner Feldforschung die Spur sogenannter âsprechender Kinderâ auf, deren erste Worte sich auf Erinnerungen an ein vorhergehendes Leben beziehen. Werden diese Kinder als Wiedergeburt eines konkreten Verstorbenen erkannt, betrifft die Seelenwanderung nicht mehr nur das Individuum. Menschen werden (neu) verbunden mit spĂŒrbaren Folgen in vielen Lebensbereichen wie zum Beispiel verwandtschaftliche Zugehörigkeiten, potenzielle Heiratsmöglichkeiten, Beistandspflichten, Erbschaft etc. Es wandern nicht nur die Seelen sanft entschlafener drusischer GroĂeltern, sondern auch die von Verbrechensopfern und jungen Menschen, die noch mitten in ihrem Leben standen. KrĂ€nkung, Streit, Rache und Verwirrung können die Folge sein. Manche Wiedergeborene suchen ihre âalteâ Familie aktiv auf und finden Frieden, andere zerbrechen an der ZurĂŒckweisung.
Der Stern und die fĂŒnf Farben symbolisieren fĂŒnf goÌttliche Universalprinzipien, die sich unter anderem in unterschiedlichen Propheten, Weisheiten, Lebenselementen, Gestirnen und Farben manifestieren. So steht die Farbe GruÌn fuÌr universelle Weisheit; Rot fuÌr universale Seele; Gelb fuÌr das Wort; Blau fuÌr âder vorausgehende Zeitraumâ und WeiĂ fuÌr âder nachfolgende Zeitraumâ. Diese fuÌnf Farben finden ihren Niederschlag in der typischen FuÌnf-Farben-Kombination der Drusen unter anderem in Form fuÌnfzackiger Sterne, die als drusische IdentitaÌtsmarker dienen.
Gebhard Fartacek beschĂ€ftigt sich in seiner Forschungsarbeit vorwiegend mit religionsethnologischen Fragen im Nahen Osten. Er rekonstruiert FĂ€lle in Form von Oral History und durch biografische Interviews mit Betroffenen, Angehörigen und dem Umfeld, wobei ihm seine Arabischkenntnisse zupass kommen. Zu RealitĂ€tsnĂ€he und Wahrheitsgehalt der erzĂ€hlten Begebenheiten nimmt der Forscher eine konstruktivistische Position ein: âEntscheidend ist, dass das PhĂ€nomen in dieser Gesellschaft eine anerkannte soziale RealitĂ€t ist. In der drusischen Gemeinschaft scheiden sich die Geister eher an der Frage, ob taqammus den Zusammenhalt fördert oder Chaos und Unruhe bringt.â Ihm geht es um ErzĂ€hlungen, Diskurse und (problematische) Konsequenzen aus emischer Sicht, also aus Sicht der Betroffenen.
Sichtweisen auf Seelenwanderung
Einen ersten projektbezogenen Aufenthalt hat der Wissenschafter im Herbst 2016 im Libanon absolviert und sich bei seiner Feldforschung zu Menschen, die sich an ihr vorhergehendes Leben zurĂŒckerinnern, durchgefragt: âBesonders hĂ€ufig sind Berichte von Menschen, die mit ihrem Leben noch nicht fertig waren und auf tragische, gewaltsame oder unerwartete Art aus dem Leben geschieden sindâ, erklĂ€rt Fartacek im GesprĂ€ch mit scilog. Seine Forschungsarbeit soll in einer Typologie von FĂ€llen mĂŒnden. Als erstes Ergebnis kristallisiert sich heraus, dass Geschichten von Wiedergeburt einer Art Plot-Bildung unterliegen und die Eckpunkte routiniert vorgetragen werden. Umso wichtiger ist es fĂŒr Fartacek zu erfahren, welche Sichtweisen es auf ein und denselben Fall gibt. Die Rekonstruktionen seien, so der Forscher, ein Puzzlestein der kultur- und sozialanthropologischen Theoriebildung, die den landlĂ€ufigen Vorstellungen widersprechen wĂŒrden, wonach ein gemeinsam geteilter Glaube zwangslĂ€ufig zu starkem Gruppenzusammenhalt fĂŒhre. âDie Wiedergeburt wird von allen Drusen akzeptiert, seine Folgen fĂŒr gesellschaftlichen Zusammenhalt aber sehr widersprĂŒchlich wahrgenommenâ, erlĂ€utert Fartacek. Durch andauernde Kriegs- und Konfliktgeschehen in Syrien konnte Gebhard Fartacek auch in Ăsterreich drusische FlĂŒchtlinge befragen und Aspekte von Seelenwanderung als Coping Strategie (BewĂ€ltigungsstrategie fĂŒr schwierige Lebensereignisse) herausarbeiten. Mit ihm arbeitet der Islamwissenschafter Lorenz Nigst im Projekt. Unter den FlĂŒchtlingen rekrutierte er auch einen syrischen Mitarbeiter, der ihn bei der prĂ€zisen Dokumentation und Archivierung der GesprĂ€che im Phonogrammarchiv an der Ăsterreichischen Akademie der Wissenschaften unterstĂŒtzt.
Zur Person Gebhard Fartacek ist Projektleiter am Phonogrammarchiv der Ăsterreichischen Akademie der Wissenschaften, Lehrbeauftragter u.a. am Institut fĂŒr Kultur- und Sozialanthropologie der UniversitĂ€t Wien und der PĂ€dagogischen Hochschule Wien. Der Sozialanthropologe beschĂ€ftigt sich mit Methoden der ethnologischen Datenerfassung und forscht u.a. zu lokalkulturellen KonfliktbewĂ€ltigungsstrategien und ethnisch-religiösen Segmentierungen im Nahen Osten.
Projekthomepage: http://www.taqammus.at Publikationen