100 Jahre Liebesgeschichte(n)

âIn Briefen liegt groĂes Erkenntnispotenzialâ, sagt Christa HĂ€mmerle von der UniversitĂ€t Wien. Den Beweis hat die Historikerin in einem mehrjĂ€hrigen Forschungsprojekt des FWF angetreten, das sie gemeinsam mit Ingrid Bauer von der UniversitĂ€t Salzburg geleitet hat. Die beiden Historikerinnen haben mit ihrem Team Liebesbriefe ĂŒber den Zeitraum von 1870 bis in die 1970er Jahre analysiert und dabei eine Bandbreite an kultur- und gesellschaftsgeschichtlichen Themen aufgearbeitet.
Zwischen Normen und Idealen
Auf der Basis von Quellen, die groĂteils durch die an der UniversitĂ€t Wien angesiedelte âSammlung FrauennachlĂ€sseâ zugĂ€nglich wurden, erstellten die Forscherinnen eine Geschichte der GefĂŒhle, der Geschlechterbeziehungen und des privaten Schreibens. âDer eheeinleitende Brautbrief gilt als Inbegriff des bislang meist eng definierten Liebesbriefes und war bis in die 1960er Jahre weit verbreitet. Briefliche Kommunikation war damit fĂŒr das Verhandeln von BeziehungsentwĂŒrfen von hoher Bedeutungâ, erklĂ€rt Ingrid Bauer. Konkret wurden in den Korrespondenzen GefĂŒhle, Erwartungen, Wunschbilder oder vorherrschende Konzepte von Liebe und Ehe verhandelt. âDie Schreibenden scheinen durchwegs zu wissen, was als Liebesbrief gilt, gleichzeitig ĂŒberschreiten sie die Normen und kulturellen Codesâ, sagt Christa HĂ€mmerle. Vor diesem Hintergrund fĂŒhrte das Projektteam mehrere Teilstudien im LĂ€ngs- und Querschnitt durch zu Aspekten wie dem familiĂ€ren und sozialen Umfeld, zu SexualitĂ€t, Eheanbahnung und zur Wirkmacht des Konzepts der romantischen Liebe. Aber auch die wissenschaftlich bis dato kaum bearbeiteten Themen wie Eifersucht, Treue oder das briefliche Verhandeln von Konflikten standen im Fokus dieses Grundlagenforschungsprojekts.
SexualitÀt und Körper immer prÀsent
Zu den Ă€lteren im FWF-Projekt untersuchten Korrespondenzen zĂ€hlen Briefe aus der Zeit der bĂŒrgerlichen Frauenbewegung Ende des 19. Jahrhunderts. Die jĂŒngsten Korrespondenzen entstanden im Kontext der âSexuellen Revolutionâ um 1970. Die Zeugnisse reichen von Feldpostbriefen aus der russischen Gefangenschaft und Trost spendenden Liebesbeteuerungen in einem Konzentrationslager, ĂŒber Verlobungskorrespondenzen beider Seiten, Briefe ĂŒber unglĂŒckliche Liebe bis zu den schriftlichen Dokumenten einer heimlichen AffĂ€re oder offen diskutierten Dreiecksbeziehungen der 1970er Jahre. âEntgegen der vorherrschenden Meinung, war SexualitĂ€t lange vor der Sexuellen Revolution ein Themaâ, so Bauer zu einem wesentlichen Untersuchungsergebnis. âSexuelles hat sich verdeckt eingebracht, in Metaphern und einer groĂen Breite an sprachlicher Ausdrucksvielfalt.â Auch die Körperlichkeit war ein Thema, wie der historische Vergleich von mehreren Tausend Briefen aus 70 KorrespondenzbestĂ€nden belegt. So berichteten Frauen etwa ĂŒber ihre Menstruation oder schilderten Krankheiten im Detail.
Politischer Einfluss und MachtverhÀltnisse
In der Zusammenschau von BriefbestĂ€nden aus den beiden Weltkriegen zeigt sich aber auch besonders deutlich, wie sehr politische RealitĂ€ten Einfluss auf das Private und auf Konzepte von Liebe hatten. Von den Kriegssystemen propagierte âGefĂŒhlsregimeâ prĂ€gten die Korrespondenzen. âDas hohe AusmaĂ, in dem sich die historischen VerhĂ€ltnisse in das briefliche Kommunizieren ĂŒber Liebe und Geschlechterbeziehungen einschrieben, war insgesamt signifikantâ, erklĂ€rt HĂ€mmerle. Das betraf etwa auch die Jahrhundertwende oder die gesicherten Rahmenbedingungen des Wohlfahrtsstaates, der ab den 1960er Jahren der Kontext war fĂŒr einen besonders dynamischen Umbau in den gesellschaftlichen Strukturen ebenso wie in den persönlichen Erfahrungen im Zusammenhang mit Liebe, Geschlechterrollen und SexualitĂ€t.
Eifersucht, Konflikte â eine mĂ€nnliche Perspektive
Die wissenschaftliche Aufarbeitung der Briefdokumente liefert neue Einsichten in kultur- und gesellschaftspolitische Prozesse aus der intimen Sicht der Liebenden â auch aus mĂ€nnergeschichtlicher Perspektive. Diese wird etwa in Verlobungskorrespondenzen der 1860er/1870er Jahre sichtbar, in denen MĂ€nner ausfĂŒhrlich die eigenen GefĂŒhle beschreiben â was durchaus den Erwartungen entsprach â, und Liebe zuweilen auch âinszeniertenâ. Insbesondere aus den beiden Weltkriegen ist eine FĂŒlle an Korrespondenzen (von MĂ€nnern) erhalten. Hier sind Eifersucht und Treue prĂ€sente Themen, die ganz unterschiedlich behandelt werden â vom humorvollen bis zum maĂregelnden Umgang. Eine Korrelation zwischen den Kriegen zeigt sich auch beim Thema Liebe und Gewalt, insofern als Liebesbriefe eine StĂŒtze im tĂ€glichen Erleben und Verarbeiten von Kampf und Krieg waren. âIm Vergleich aller BriefbestĂ€nde wird deutlich, dass das hierarchische Ehe- und Liebesmodell ab den 1970er Jahren heftig ins Wanken geriet, was allerdings in ersten AnsĂ€tzen und in spezifischen Milieus auch schon in der geschlechtergeschichtlichen Umbruchphase um 1900 und in den 1920er Jahren verortet werden kannâ, resĂŒmieren die Historikerinnen.
Die Projektleiterinnen Christa HĂ€mmerle beschĂ€ftigt sich insbesondere mit Geschlechtergeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts und ist Leiterin der Sammlung FrauennachlĂ€sse am Institut fĂŒr Geschichte der UniversitĂ€t Wien. Ingrid Bauer ist Zeit- und Kulturhistorikerin an der UniversitĂ€t Salzburg.
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