Staat und Religion sind in Russland eng verwoben. Der Moskauer Patriarch Kyrill I. unterstĂŒtzt Putins Angriffskrieg, wofĂŒr er auch innerkirchlich kritisiert wurde. Noch ist offen, wie sich das auf die russische Orthodoxie und ihre internationale Rolle als moralkonservative Wertegeberin auswirken wird. © Mikhail Metzel / Tass / picturedesk.com

Auf der einen Seite zeigten die vergangenen Jahrzehnte große gesellschaftspolitische Fortschritte, beispielsweise was die Anerkennung von GeschlechteridentitĂ€ten oder gleichgeschlechtlichen Verbindungen und Eheschließungen betrifft. Auf der anderen Seite ist seit vielen Jahren ein Erstarken von moralkonservativen, religiös inspirierten Werten zu beobachten. In Teilen der USA ist etwa das Recht auf Abtreibung nicht mehr gegeben, und auch in den EU-LĂ€ndern Polen oder Ungarn werden liberale gesellschaftliche Entwicklungen zu Feindbildern erklĂ€rt.

Russland nimmt in diesem wachsenden Verbund rĂŒckwĂ€rtsgewandter Weltsichten, die sich von sogenannten westlichen Werten distanzieren, eine wichtige Rolle ein. Im vergangenen Jahrzehnt hat sich in dem von Wladimir Putin zunehmend autoritĂ€r gefĂŒhrten Land ein reaktionĂ€res, minderheitenfeindliches Gesellschaftsbild etabliert. Das Regime möchte sich als Gegenentwurf zum liberalen Westen positionieren und versucht, seine „traditionellen Werte“ weltweit zu exportieren. In diesem Kontext ist die russisch-orthodoxe Kirche zu einer entscheidenden Akteurin und UnterstĂŒtzerin des Kremls geworden, indem sie unter anderem ĂŒber NGOs und verschiedene Lobbying-AktivitĂ€ten international als Meinungsmacherin auftritt.

Die russische Orthodoxie als „konservativer Norm-Entrepreneur“

Die Religionssoziologin Kristina Stoeckl von der UniversitĂ€t Innsbruck hat, unterstĂŒtzt durch einen START-Preis des Wissenschaftsfonds FWF, die Rolle der russisch-orthodoxen Kirche als „konservativer Norm-Entrepreneur“ innerhalb eines globalen religiös motivierten, moralkonservativen Netzwerks ĂŒber mehrere Jahre untersucht. Diesen Anspruch gab die Kirche auch nicht auf, als Russland mit dem Angriff auf die Ukraine in eine Diktatur abrutschte. Im Gegenteil: Patriarch Kyrill I. stĂŒtzt das Narrativ von Machthaber Putin und predigte unter anderem, dass der Krieg dem „Schutz vor den Pride-Paraden“ Homosexueller diene.

„Die KirchenfĂŒhrung legitimiert den Krieg mit denselben Argumenten, die auch Putin vorbringt. Kyrill I. spricht von schĂ€dlichen EinflĂŒssen des Westens und von Nazis, die in der Ukraine an der Macht seien“, erklĂ€rt Stoeckl. „Innerhalb der Kirche rumort es zwar. Beispielsweise wurde ein Protestbrief gegen den Krieg veröffentlicht, der von 300 Priestern unterschrieben wurde. Manche haben auch auf der Straße protestiert und wurden eingesperrt. Von ihren Bischöfen wurden sie nicht verteidigt.“

Richtungskampf in der russisch-orthodoxen Kirche

Kyrill I. kam 2009 an die Macht. Die russisch-orthodoxe Kirche war damals in ihrer institutionellen Neuaufstellung nach dem Zerfall der Sowjetunion bereits weit fortgeschritten. „Um 2000 war erstmals das Bestreben bemerkbar, gesellschaftspolitische Akzente zu setzen“, blickt Stoeckl zurĂŒck. In den folgenden Jahren war ein Richtungsstreit zwischen drei Gruppierungen wahrzunehmen, wie die Soziologin erklĂ€rt: Die eine wollte die Kirche zu einem liberalen Ort der Zivilgesellschaft machen. Ein zweiter, fundamentalistischer FlĂŒgel strebte eine vollkommene Abschottung vom Westen und den Errungenschaften der Moderne an. Die dritte Gruppe propagierte ebenfalls ein konservatives Wertekorsett, wollte Russland aber als weltpolitischen Akteur sehen. Kyrill I., der sich schließlich durchsetzte, ist diesen letzteren Traditionalisten zuzurechnen. „Ab 2012, als Putin erneut PrĂ€sident wurde, diente die russisch-orthodoxe Kirche als Labor, aus dem der Kreml Ideologien bezog und in Gesetze verpackte“, resĂŒmiert Stoeckl.

Die Orthodoxie ist heute zwar Teil eines neuen wertekonservativen kulturellen SelbstverstĂ€ndnisses in Russland geworden. Dennoch bleibt das Land ein im Grunde sĂ€kularer Staat, in dem – Ă€hnlich wie im Westen – die Kirche nur in bedingtem Ausmaß tatsĂ€chlich gesellschaftliche Werte prĂ€gen kann. „Den geringen Einfluss kann man an einem Beispiel gut festmachen: Als moralkonservative Gruppe lehnt die russisch-orthodoxe Kirche sowohl HomosexualitĂ€t als auch Abtreibung ab. Punkto HomosexualitĂ€t ist sie im Einklang mit einem großen Teil der Bevölkerung, die ablehnende Haltung war auch bereits in den Sowjetzeiten Ă€hnlich“, erklĂ€rt Stoeckl. „Doch Abtreibung war ebenfalls bereits wĂ€hrend der Sowjetunion eine gĂ€ngige Praxis. Hier erzielt die Kirche keine nennenswerten Erfolge bei der Durchsetzung von Verboten. Die Gesetzeslage ist nach wie vor Ă€hnlich jener in Westeuropa – und nicht vergleichbar mit den Verboten in Polen oder in den USA.“

Abspaltung der ukrainischen Kirche

Die Kirche dient also zwar als Ideologie-Lieferant fĂŒr die StaatsfĂŒhrung, nennenswerter politischer Einfluss im Kreml bleibt ihr aber vorenthalten. Gleichzeitig erwĂ€chst dem russischen Patriarchat durch den Ukraine-Krieg ein enormes Problem: „Nachdem sich Kyrill I. gegen die Ukraine gestellt hat, hat die ukrainisch-orthodoxe Kirche nach Kriegsbeginn mit der russischen Kirchenleitung gebrochen“, erklĂ€rt Stoeckl. „Das ist fĂŒr das Patriarchat in Moskau durchaus relevant. Die Kirchengemeinde der Ukraine ist groß, Patriarch Kyrill I. sieht die Ukraine als Teil seines kanonischen Territoriums.“ Noch ist offen, welche Folgen diese Loslösung langfristig haben wird.

Eine weitere aktuelle Frage ist, welche Folgen die Putin-treue Haltung der russisch- orthodoxen Kirche auf ihr weltweites Standing als moralkonservative Einflussgeberin hat. Vor etwa einem Jahrzehnt war eine „religiöse Wende“ bei einer Reihe von Rechtsparteien in Europa – von der italienischen Lega Nord bis zur österreichischen FPÖ – zu beobachten. Einerseits hatte die Einwanderung aus muslimisch geprĂ€gten LĂ€ndern damit zu tun, andererseits, so betont Stoeckl, gehe es um eine EngfĂŒhrung traditioneller Werte, um sich gegen die liberale Welt zu positionieren.

„Hier spielen nun Russland und die russisch-orthodoxe Kirche eine wichtige Rolle. Denn der neue römisch-katholische Papst Franziskus, der seit 2013 im Amt ist, setzte anders als seine beiden moralkonservativen VorgĂ€nger den Schwerpunkt seines Pontifikats auf Themen wie Migration und ArmutsbekĂ€mpfung. Die daraus entstandene moralkonservative Leerstelle wurde von der Orthodoxie besetzt.“

Der Angriff auf die Ukraine und die darauffolgende Ächtung Russlands hatte zur Folge, dass sich europĂ€ische und weltweite Rechtsgruppierungen vom Moskauer „Ideologie-Zentrum“ distanzierten. Noch ist unklar, ob das langfristig auch so bleiben wird. „Zumindest fĂŒr Russland ist der Krieg in der Ukraine auch einer, der als culture war Wertefragen aufeinanderprallen lĂ€sst“, sagt Stoeckl.

Liberale Werte besser kommunizieren

Was könnten nun die liberalen westlichen Staaten den illiberalen und vielfach diskriminierenden Tendenzen einer weltweit vernetzten moralkonservativen Szene entgegenstellen? „Besonders wichtig wĂ€re, den eigenen Wertekanon besser zu kommunizieren. Die Nichtdiskriminierungspolitik ist ein Wert fĂŒr sich, der allen nĂŒtzt“, betont Stoeckl. „Der Rhetorik der Rechtsparteien, die das Thema verkĂŒrzt darstellt und etwa auf die LGBT-Community fokussiert, kann nur so der Wind aus den Segeln genommen werden.“

Gleichzeitig dĂŒrfen Konflikte ĂŒber gesellschaftliche Themen nicht dĂ€monisiert werden. „Debatten zwischen konservativen und liberalen Positionen mĂŒssen möglich bleiben. Eine Demokratie muss auf Kompromisse setzen. Die zunehmende Polarisierung der Gesellschaft lĂ€sst aber immer weniger Terrain ĂŒbrig, auf dem sich unterschiedliche Positionen treffen können.“

Zur Person

Kristina Stoeckl ist Professorin am Institut fĂŒr Soziologie der UniversitĂ€t Innsbruck. Die Religionssoziologin hat am EuropĂ€ischen Hochschulinstitut in Florenz promoviert und war unter anderem Marie-SkƂodowska-Curie-Fellow an der UniversitĂ€t Rom Tor Vergata und APART-Stipendiatin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften an der UniversitĂ€t Wien. FĂŒr ihr Forschungsprojekt zu postsĂ€kularen Konflikten erhielt sie 2015 einen mit knapp 1,2 Millionen Euro dotierten START-Preis des Wissenschaftsfonds FWF fĂŒr Nachwuchsforschende sowie den ERC Starting Grant des EuropĂ€ischen Forschungsrates.

Ende 2022 erscheint von Kristina Stoeckl und Dmitry Uzlaner das Buch „The Moralist International. Russia in the Global Culture Wars“, in dem Russlands Rolle als Exporteur moralkonservativer Werte analysiert wird.

Publikationen

Stoeckl, Kristina, Uzlaner, Dmitry, (Hg.): Postsecular Conflicts. Debating tradition in Russia and the United States. Innsbruck University Press 2021

Stoeckl, Kristina: Russian Orthodoxy and Secularism. Monographic number of Brill Research Perspectives in Religion and Politics 1/2, 75 pages, 2020

Stoeckl, Kristina: The rise of the Russian Christian Right: the case of the World Congress of Families, in: Religion, State and Society, 48/4, 222-238, 2020