Corona Fictions â Was ein Blick in die Literatur ĂŒber die Zukunft sagt

âNous sommes en guerreâ â Frankreichs PrĂ€sident Emmanuel Macron hat dem Coronavirus in seiner TV-Ansprache zum ersten Lockdown den Krieg erklĂ€rt. Sechsmal wiederholte er das Wort vom Krieg in seiner Rede, aktivierte damit Bilder und Assoziationen in den Köpfen seiner Landsleute. In einer vernetzten Welt können sich nicht nur Viren innerhalb weniger Stunden verbreiten, auch Narrative gehen schnell viral. Sie erreichen ein Publikum ĂŒber nationale Grenzen hinaus, wirken sinnstiftend und beeinflussen die LebensrealitĂ€t der Menschen.
Interpretationen dieser Corona-ErzĂ€hlungen finden sich auch in kulturellen Produktionen aller Art wieder â in Romanen, Serien, Popsongs und Musikvideos. âDiese literarischen und audiovisuellen Produktionen lassen sich als âCorona Fictionsâ zusammenfassenâ, erlĂ€utert Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Yvonne Völkl vom Institut fĂŒr Romanistik der UniversitĂ€t Graz. âCorona Fictions zeigen, welche Auswirkungen etwa gesundheitspolitische MaĂnahmen auf die Gesellschaft haben, wie diese sie wahrnimmt und bewertet.â
Kultur hilft, die Welt zu verstehen
So haben sich wĂ€hrend des ersten Lockdowns im MĂ€rz 2020 zahlreiche Menschen der Kultur zugewandt, um zu verstehen, was gerade passiert. Literarische Werke wie Albert Camusâ âDie Pestâwaren in vielen Buchhandlungen ausverkauft, Katastrophenfilme wie Steven Soderberghs âContagionâ und Wolfgang Petersens âOutbreakâ tauchten wieder in den Listen der meistgesehenen Filme auf. âLiteratur kann eine Anleitung zur BewĂ€ltigung von auĂergewöhnlichen Situationen bieten. Sie vermittelt Wissen durch die Erfahrungen andererâ, erklĂ€rt Völkl.
Doch wurde nicht nur rezipiert, viele Menschen haben begonnen, ihre eigenen ErzĂ€hlungen zu schaffen. In diesen Texten, Liedern und Filmen liegen die sprachlichen und bildhaften Fundamente des gesellschaftlichen Umgangs mit dem Coronavirus. âDas hat mein Team und mich von Anfang an fasziniert. Man könnte Corona Fictions als eine Art BewĂ€ltigungsstrategie ansehenâ, sagt Yvonne Völkl. FĂŒr ihr neues, vom Wissenschaftsfonds FWF gefördertes Forschungsprojekt sammelt sie in den kommenden zwei Jahren gemeinsam mit ihrem Team (bestehend aus Albert Göschl, Elisabeth Hobisch und Julia Obermayr) solche Corona-Geschichten.
Leitende Forschungsfragen
âWir möchten wissen, welche Themen besonders dominant sind: Ist es die Angst vor dem Erkranken oder vor dem Sterben, sind es die Auswirkungen der Isolation oder die Schwierigkeiten mit Betreuungspflichten, ist es hĂ€usliche Gewalt?â, sagt Völkl. Eine weitere Forschungsfrage beschĂ€ftigt sich mit den Gemeinsamkeiten zu frĂŒheren âPandemic Fictionsâ. âUns interessiert, welche Teile der MetaerzĂ€hlung reaktiviert werden. Wir untersuchen konzeptionelle und begriffliche Strukturen, wie zum Beispiel Kriegsmetaphern, die das Virus als Feind darstellen. Denn diese Metaphern stimulieren das kollektive GedĂ€chtnis des Publikums.â Das Forschungsprojekt geht dabei auch darauf ein, wie Corona Fictions zu individueller und kollektiver Resilienz beitragen können. Auch der ReprĂ€sentation von sozialen Gruppen und Minderheiten in den ErzĂ€hlungen soll auf den Grund gegangen werden.
Mithilfe der Zivilgesellschaft
Yvonne Völkl und ihr Team analysieren vorranging Mediengattungen aus romanischsprachigen LĂ€ndern. Doch werden weitverbreitete Produktionen in anderen Sprachen ebenfalls inkludiert, wie zum Beispiel das Pandemie-Tagebuch âWuhan Diaryâ der chinesischen Schriftstellerin Fang Fang oder der Lockdown-Roman âSo ist die Welt gewordenâ der österreichischen Autorin Marlene Streeruwitz. Da es keine zentralen Plattformen gibt, die alle Corona Fictions zusammenfĂŒhren, lĂ€sst sich der Sammlungsprozess nicht so einfach alleine bewerkstelligen. DafĂŒr gibt es aber eine Lösung: Citizen Science. In der ersten Phase des Projekts wird â zusĂ€tzlich zu mehr als einem Dutzend Projektpartner/innen aus dem In- und Ausland â die Zivilgesellschaft miteingebunden. Völkl: âĂber eine digitale Plattform kann die Ăffentlichkeit uns Hinweise auf Corona Fictions mitteilen.â Die Website wird ab Juni online sein (Link siehe unten).
Lebensweltliche Relevanz von Literatur
Warum ist dieses Forschungsprojekt wichtig? âMan kann mit einem Blick in die Literatur â und die verstehe ich multimedial â in gewisser Weise die Zukunft vorhersagen. Es gibt verschiedene Möglichkeiten zur BewĂ€ltigung von Krisen. Historisch gesehen, handeln Menschen fast immer nach den gleichenâ, erklĂ€rt die Projektleiterin. Eine vertiefende Auseinandersetzung mit kulturellen Produktionen ermöglicht eine bessere Bewertung von aktuellen Situationen, möglichen Szenarien und von Resilienz. âAn Pandemic Fictions lĂ€sst sich ablesen, wie sozialer Wandel passiert und auch, wo einseitig gefĂŒhrte gesellschaftliche Diskurse hinfĂŒhren können.â
Rolle der Geisteswissenschaften im Krisenmanagement
Politische Entscheidungsprozesse werden hauptsĂ€chlich von medizinischen Daten und den Naturwissenschaften beeinflusst. âAuch die Geisteswissenschaften sollten in das Krisenmanagement miteinbezogen werden. Ihr Beitrag zum Umgang mit neuartigen Situationen ist nicht zu unterschĂ€tzenâ, betont Völkl. Die Geistes- und Kulturwissenschaften ermöglichen es, soziokulturelle Aspekte zu berĂŒcksichtigen und damit vorhandene Daten zu bereichern. âDadurch können Entscheidungen fĂŒr alle BĂŒrgerinnen und BĂŒrger inklusiver gestaltet und auch KollateralschĂ€den durch traumatisierende Narrative verhindert werden.â Welche Auswirkungen hat es etwa, wenn man vom âKriegâ spricht? Ein Blick in kulturelle ErzĂ€hlungen kann darĂŒber aufschlussreiche Erkenntnisse liefern â und sprachliche Auswege aus der Krise zeigen.
Zur Person
Yvonne Völkl ist Literatur- und Kulturwissenschaftlerin, derzeit forscht und lehrt sie am Institut fĂŒr Romanistik an der UniversitĂ€t Graz. Ihre TĂ€tigkeiten fĂŒhrten sie ins französisch- und spanischsprachige Ausland. Völkl leitet ab Juni 2021 das vom Wissenschaftsfonds FWF im Rahmen der Corona-Akutförderung mit 400.000 Euro finanzierte Forschungsprojekt âCorona Fictions. On Viral Narratives in Times of Pandemicsâ, in dem jene kulturellen Produktionen gesammelt und erforscht werden, die im Zuge der Coronakrise entstehen. Das Projekt ist fĂŒr zwei Jahre angelegt.
BeitrÀge und Links
Pandemic Research Group: From Pandemic to Corona Fictions: Narratives in Times of Crises, in: PhiN-Beihefte 24, 321â344, 2020
WeiterfĂŒhrende Informationen: https://homepage.uni-graz.at/de/yvonne.voelkl/corona-fictions-2021-24/