Marktgeschehen in Zaranda, Nigeria 1958: lokale Bevölkerung und Kolonialbeamte im Austausch
In einem Grundlageprojekt wurden die KarrierverlĂ€ufe zehntausender ehemaliger Kolonialbeamter untersucht. Die Ergebnisse liefern wichtige Antworten fĂŒr die heutige Entwicklungzusammenarbeit. Foto: Markt in Zaranda, Nigeria 1958 © Malcolm Anderson

Colin Baker blickt auf ein Leben zurĂŒck, das sich zu großen Teilen in Nyasaland – dem heutigen Malawi – abgespielt hat. Als Kolonialbeamter Großbritanniens war der Jurist dort Bezirksvorsteher einer abgelegenen, lĂ€ndlichen Region. Auch nachdem das Land in den 1960er-Jahren unabhĂ€ngig wurde, blieb er als Berater vor Ort. In der Kolonialzeit wurden Verwaltungsmaßnahmen in London bestimmt. Dort wurde etwa festgelegt, dass in allen Kolonien ein Laienrichter-System eingefĂŒhrt wird. Bei GerichtsfĂ€llen sollten also BĂŒrgerinnen und BĂŒrger, unterwiesen von juristischen Beamten, Urteile fĂ€llen. Baker ignorierte das. Er wusste, dass das in seinem Bezirk nicht funktionieren wĂŒrde. Er missachtete also die Bestimmungen aus London und verwendete das fĂŒr die Laienrichter vorgesehene Geld, um ihnen eine minimale juristische Ausbildung zu ermöglichen, die fĂŒr die meisten von ihnen behandelten FĂ€lle völlig ausreichend war. Mit Erfolg: Das Justizsystem des verarmten Landes Ă€chzt natĂŒrlich unter Geldmangel wie das anderer afrikanischer Staaten. Aber Malawi ist die einzige ehemalige Kolonie geblieben, in der Laienrichter und -richterinnen einen eigenen Diplomlehrgang besuchen.

Warum Copy-Paste nicht funktioniert

Geschichten wie jene Bakers findet Valentin Seidler besonders interessant. Denn der Entwicklungsökonom der WirtschaftsuniversitĂ€t Wien beschĂ€ftigt sich mit der Frage, wie Verwaltungsreformen im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit besser umgesetzt werden können. Vorbild fĂŒr dahingehende Reformen in den PartnerlĂ€ndern sind zumeist die Institutionen jener LĂ€nder, aus denen die Entwicklungshelfer und -helferinnen stammen. „Die Erfahrung zeigt, dass diese ,Transplantation‘ der Verwaltungsstrukturen oft nicht funktioniert“, erklĂ€rt Seidler. „Erfolge sind oft nur von kurzfristiger Dauer, weil lokale Gegebenheiten oder kulturelle Eigenheiten in den LĂ€ndern ignoriert werden.“ Colin Baker hat sich dagegen entschieden, eine Verwaltungsform des Empires eins zu eins zu ĂŒbernehmen – und hat damit lebensfĂ€higere Strukturen in der ehemaligen Kolonie geschaffen.

Hochzeit von Colin und Shirley Baker in Zomba (Malawi) 1956 © Society of Malawi

In seinem Projekt „Bureaucrats, Transplant Effect and Institutional Quality II“, das durch ein Erwin-Schrödinger-Stipendium des FWF finanziert wurde, verwendet Seidler einen einzigartigen Ansatz, um den Erfolg von Reformen in EntwicklungslĂ€ndern zu untersuchen. Die Basis dafĂŒr geben die Daten Bakers und Tausender seiner britischen Kollegen und Kolleginnen – die wenigen Kolonialbeamtinnen waren meist Lehrerinnen und Krankenpflegerinnen. „Ich habe aus den Personalbögen des britischen Colonial Office einen Datensatz erstellt, der Informationen wie Ausbildung, Dienstdauer und Kompetenzen von 14.000 leitenden Verwaltungsbeamten und -beamtinnen enthĂ€lt“, erklĂ€rt Seidler. „Sie alle waren im Amt, als die Kolonien ihre UnabhĂ€ngigkeit errangen. Viele dieser Beamten und Beamtinnen, egal ob sie im Gesundheits-, Justiz-, Bildungs- oder in einem anderen Bereich tĂ€tig waren, sind danach – wie auch Baker – als Berater und Beraterinnen geblieben – in manchen LĂ€ndern mehr, in anderen weniger.“ Das Verbleiben dieser Beamten und Beamtinnen, die weiterhin ihr Gehalt aus Großbritannien bezogen, war fĂŒr Seidler die „Geburtsstunde der Entwicklungszusammenarbeit“.

DrittgrĂ¶ĂŸte Datensammlung zu Mitarbeitern des Empires

Das mĂŒhevolle Scannen alter Karteikarten und die Erstellung einer umfassenden elektronischen Datenbank war fĂŒr Seidler aber nur der erste Schritt. Aus den etwa 800 ehemaligen Beamtinnen und Beamten, die noch am Leben waren, wĂ€hlte Seidler etwa hundert aus, mit denen er persönliche Interviews fĂŒhrte. Durch diese Kontakte wurden die Daten um große Mengen an Fotos, Videomaterialien und andere Aufzeichnungen ergĂ€nzt. Zuletzt kamen dank einer Seniorenorganisation fĂŒr Kolonialbeamte weitere 25.000 DatensĂ€tze dazu. Diese letzte verbliebene offizielle Agentur des Empires stellte erst 2017 ihre TĂ€tigkeit ein. „Insgesamt kam so die drittgrĂ¶ĂŸte Datensammlung zu Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen des britischen Empires zusammen“, resĂŒmiert Seidler. Die wichtigste Frage, die der Wissenschaftler mit dem Datensatz beantworten wollte, war: Machte es einen relevanten Unterschied, wenn die britischen Experten und Expertinnen, die im Land erfahren, durchwegs gut gebildet und der lokalen Sprache mĂ€chtig waren, weiterhin beratend im Land blieben? Seidler sah sich die VerĂ€nderung von Kompetenzen und Ausbildungsstruktur nach der UnabhĂ€ngigkeit in verschiedenen Organisationen an, genauso wie deren Erfolge – von der Umsetzung von Impfkampagnen ĂŒber effizienten Straßenbau bis hin zur Zahl von StromausfĂ€llen in der Region. „Es hat sich tatsĂ€chlich gezeigt, dass es einen signifikanten Unterschied gab. Dort, wo Expertinnen und Experten blieben, konnten mehr Projekte auf den Boden gebracht werden“, erklĂ€rt der Entwicklungsökonom. „Besonders erfolgreich schienen aber jene gewesen zu sein, die – wie Baker in Malawi – schon davor gewohnt waren, freier mit den Vorgaben aus London umzugehen und Maßnahmen an die lokalen Gegebenheiten anzupassen.“

Anforderungsprofil in der Entwicklungshilfe

Was kann man nun daraus fĂŒr die Entwicklungszusammenarbeit der Gegenwart lernen? Seidler war vor seiner akademischen Karriere selbst Entwicklungshelfer und kennt die Herausforderungen, die sich dabei stellen. Er möchte auf Basis seiner Datensammlung ein Anforderungsprofil fĂŒr Entwicklungsexperten und -expertinnen entwerfen, egal, ob sie aus dem Zielland selbst oder von außerhalb kommen. „Sie mĂŒssen einerseits die richtige Ausbildung haben, andererseits aber auch den Mut und die Lebenserfahrung, die Dinge der individuellen Situation entsprechend ein bisschen anders anzugehen als vielleicht vorgesehen“, skizziert Seidler. „Die Frage ist, wie man diese Leute findet. Ich möchte herausfinden, nach welchen Backgrounds, Altersstufen und anderen Eigenschaften man bei der Rekrutierung suchen soll.“


Zur Person Valentin Seidler ist Entwicklungsökonom an der WirtschaftsuniversitĂ€t Wien und Lektor am Institut fĂŒr Internationale Entwicklung der UniversitĂ€t Wien sowie an der Diplomatischen Akademie Wien. Forschungsaufenthalte, die durch das Max Kade Fellowship der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und das Erwin-Schrödinger-Stipendium des FWF unterstĂŒtzt wurden, fĂŒhrten ihn an das  Institute for Advanced Study in Princeton (USA), an die University of Warwick (GB) und die University of Groningen (NL). Vor seiner akademischen Karriere war Seidler Entwicklungshelfer beim Internationalen Roten Kreuz und in dieser Rolle unter anderem in Mosambik, Burkina Faso, Indonesien, Kambodscha und Osttimor tĂ€tig.


Publikationen    

Seidler, V.: Copying informal institutions: The role of British colonial officers during the decolonization of British Africa, in: Journal of Institutional Economics, 14(2): 289-312, 2018
Seidler, V.:  Institutional copying in the 20th century: The role of 14,000 British colonial officers, in: Journal of Contextual Economics, 137(1-2), 93-119, 2017
Seidler, V.: Colonial bureaucrats, institutional transplants, and development in the 20th century, in: Administory - Zeitschrift fĂŒr Verwaltungsgeschichte, 1: 155-172, 2016
Seidler, V.: When do institutional transplants work? The relation between institutions, culture and the transplant effect: The case of Borno in northeastern Nigeria, in: Journal of Institutional Economics, 10(3): 371- 397, 2014