Wenn die Masse im Affekt klug entscheidet
âEin einzelner Mensch ist intelligent, ein Haufen Menschen sind dumme, hysterische, gefĂ€hrliche Tiere.â â Dieses Zitat aus dem Film âMen in Blackâ geht auf Aussagen des Philosophen Gustave Le Bon zurĂŒck, der als BegrĂŒnder des Gebiets der Massenpsychologie gilt. Le Bon beschreibt die Transformation der bewussten Persönlichkeit einzelner Menschen zu einer Art Kollektivseele, die sie ganz anders fĂŒhlen lĂ€sst â, manchmal eben hysterisch und irrational. Der Philosoph Gerhard Thonhauser hat sich in einem vom Wissenschaftsfonds FWF finanzierten Projekt daran gemacht, diese verbreitete EinschĂ€tzung zu hinterfragen. Als Modellsituation wĂ€hlte er das Publikum von Sportveranstaltungen.
Die âMasseâ als Gefahr
Das Nachdenken ĂŒber Kollektive falle uns generell schwer, sagt Thonhauser. âMir scheint, dass wir bei Kollektiven immer in eine von zwei Richtungen abdriften â entweder in die Angst vor Massendynamiken, wo die Masse etwas GefĂ€hrliches ist, das kontrolliert werden muss, oder aber in eine Begeisterung fĂŒr Massen und ihr revolutionĂ€res Potenzial, als Ideal herrschaftsfreier Selbstregierung.â WĂ€hrend Ersteres auf den erwĂ€hnten Le Bon zurĂŒckgehe, sei Zweiteres vor allem in marxistischen Strömungen prĂ€sent. âEs lĂ€sst sich gut nachverfolgen, dass relativ viel von unserem AlltagsverstĂ€ndnis, aber auch in der Wissenschaft in eine dieser beiden Richtungen gehtâ, sagt der Philosoph und ergĂ€nzt: âDie Idee des Projekts war, unser Nachdenken ĂŒber Kollektive an einem beispielhaften System zu untersuchen.â Thonhausers Wahl fiel auf das Publikum im Sport.
Sportpublikum als Modell
âDer Publikumsbegriff ist fĂŒr mich interessant, weil in klassischen Ăffentlichkeitstheorien, wie zum Beispiel bei JĂŒrgen Habermas, das BĂŒrgerliche Publikum die Leitfigur fĂŒr die Ăffentlichkeit warâ, erklĂ€rt Thonhauser. âPublikum hat mit Ăffentlichkeit zu tun, wie es etwa im englischen Wort Public sichtbar wird, das dieselbe Wortwurzel hat.â Die Idee des Projekts war laut dem Forscher, im Rahmen dieser Modellsituation Begrifflichkeiten zu entwickeln, mit denen Agierende in Interaktion mit ihrer materiellen und sozialen Umwelt verstanden werden können. Thonhauser hat dafĂŒr mit Forschenden verschiedenster Fachrichtungen zusammengearbeitet, die Teil eines deutschen Sonderforschungsbereiches namens Affective Societies sind. âEin soziologisches Teilprojekt dieses Forschungsbereichs, mit dem ich kooperierte, arbeitete mit ethnographischen Methoden und insbesondere mit Videos, die wĂ€hrend Bundesligaspielen und religiösen GroĂveranstaltungen vom Publikum gemacht wurdenâ, berichtet Thonhauser. âIch nahm an manchen Datensitzungen teil, bei denen die Videos gemeinsam analysiert wurden. Dabei zeigte sich, dass es denjenigen, die weniger Ahnung vom spezifischen Feld hatten, hĂ€ufig schwerfiel, die beobachtbaren Verhaltensweisen nachzuvollziehen. Es bedurfte dann teilweise ausfĂŒhrlicher ErklĂ€rungen der Expertinnen und Experten fĂŒr das jeweilige Feld, bis sich ein VerstĂ€ndnis einstellte.â Im Rahmen dieser Arbeit habe sich fĂŒr ihn abgezeichnet, dass auch eine Wende nötig sei, was die BeschĂ€ftigung mit Emotionen angeht. âEs gibt die Idee, dass RationalitĂ€t und EmotionalitĂ€t nichts miteinander zu tun haben, und dass EmotionalitĂ€t fĂŒr RationalitĂ€t hinderlich ist. Diesen Gedanken gilt es zu hinterfragenâ, sagt Thonhauser. Emotionen könnten uns etwas ĂŒber eine Situation sagen und wie es uns dort geht. âDas ist nicht irrational, sondern normaler Teil unserer Interaktionen. Auch ein vernĂŒnftiger Austausch hat eine affektive Basisâ, betont der Forscher.
Thonhauser ist Nationaltrainer
Zu seinem Modellsystem Sport hat Gerhard Thonhauser einen ganz persönlichen Bezug, wie er erklĂ€rt: âIn meiner Jugend und Studienzeit habe ich jahrelang FuĂball gespielt und bin dann zu Ultimate Frisbee gewechselt.â Bei Letzterem handelt es sich um einen auf Frisbee basierenden Mannschaftssport mit Elementen aus Basketball und American Football. Seit ein paar Jahren ist Thonhauser Trainer des österreichischen Mixed-Nationalteams in diesem Sport. Ultimate Frisbee ist insofern eine besondere Sportart, als sie ohne Schiedsrichter auskommt. Der Fair-Play-Gedanke ist hier besonders stark ausgeprĂ€gt, und selbst auf WM-Niveau werden nach einer vermuteten RegelĂŒbertretung alle Entscheidungen von den Spielerinnen und Spielern auf dem Platz getroffen. âDas erfordert eine starke Emotionskontrolle, weil man auch in Momenten höchster Anstrengung, in denen es um sehr viel geht â potenziell um einen WM-Titel â, ruhig und auf Augenhöhe mit der gegnerischen Mannschaft kommunizieren muss, um gemeinsam zu verstehen, was in einer Situation geschehen ist, und was die richtige Entscheidung ist.â Es zeige sich, dass das Publikum dabei ganz ruhig wird, um die Entscheidungsfindung am Feld nicht zu beeinflussen. Thonhauser stellt diese Situation der Dynamik im FuĂball gegenĂŒber, dem Sport, den er frĂŒher gespielt hat. âDort ist es ganz normal, dass das Heimpublikum bei Entscheidung gegen das eigene Team pfeift, um das Schiedsrichterteam zu beeinflussen.â Um Situationen wie diese zu verstehen, seien die bisherigen Denkmuster nicht ausreichend, so der Philosoph. Die Konzentration auf den emotionalen Kontext sei entscheidend.
Konsequenzen fĂŒr die Politik
Thonhauser betont, dass der Sport hier nur ein Modell ist. Seine Analysen sind auch auf andere Bereiche ĂŒbertragbar, etwa die Politik. âMobilisierung findet immer affektiv statt. Wir mĂŒssen emotional betroffen sein, um uns zu engagierenâ, sagt Thonhauser. Das hieĂe nicht, dass dieses Engagement deshalb irrational wĂ€re. Es brauche die Konzentration auf die Interaktionen innerhalb der Gruppe, sagt der Forscher. âUm diese zu verstehen, braucht es aber Hintergrundwissen ĂŒber die jeweilige Emotionskultur.â Das wurde fĂŒr Thonhauser in der Kooperation zu Publikumsemotionen im Rahmen von Affective Societies besonders deutlich. Ohne Kenntnis des jeweiligen Kontextes fĂ€llt es selbst erfahrenen Forschern schwer, die verschiedenen GefĂŒhlsausbrĂŒche zu verstehen. âWer zum ersten Mal in einem FuĂballstadion ist, wird nicht verstehen, was dort passiert. Das ist nur möglich, wenn man die emotionalen Codes kenntâ, schlieĂt Thonhauser mit einem Beispiel aus dem Sport.
Zur Person Gerhard Thonhauser forscht als Praktischer Philosoph an der Technischen UniversitĂ€t Darmstadt. Er interessiert sich besonders fĂŒr Sozialphilosophie und politische Philosophie, besonders im Hinblick auf die PhĂ€nomenologie der Emotionen. Von 2017 bis 2018 war Thonhauser Erwin-Schrödinger-Stipendiat des Wissenschaftsfonds FWF an der Freien UniversitĂ€t Berlin.
Publikationen