Europas Grenzschutz im Dilemma

Sie ist und bleibt ein Dauerthema: die europĂ€ische Migrations- und FlĂŒchtlingspolitik. So zeigen etwa die jĂŒngsten Unruhen an der griechisch-tĂŒrkischen Grenze erneut die KomplexitĂ€t der europĂ€ischen Grenzschutzpolitik auf. Rund um die Debatten zur Sicherung der Grenzen ist die EU-Agentur Frontex in den Fokus geraten, die seit 2005 damit betraut ist, den AuĂengrenzschutz der EU zu koordinieren. In den vergangenen 15 Jahren ist die Agentur kontinuierlich gewachsen, insbesondere im Zuge des Migrationshöhepunktes 2015, wurden ihre Kompetenzen und Ressourcen ausgebaut. Von Beginn an stand Frontex allerdings auch unter Kritik, Menschen- und Grundrechte zu verletzen. âNoch 2005 kommen Grundrechte in den Leitlinien der Agentur gar nicht vorâ, bestĂ€tigt Peter Slominski.
Grundrechtliche Bedenken und Unklarheiten
Der Politikwissenschaftler untersucht gemeinsam mit der Politologin Chiara Loschi in einem vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten und an der UniversitĂ€t Wien angesiedelten Projekt, die Rolle von Frontex und weiteren EU-Agenturen im Grenzmanagement der EuropĂ€ischen Union. Slominski interessiert sich vor allem fĂŒr die Frage, ob und wie Agenturen zusammenarbeiten und wie es dabei um die Einhaltung von Grund- und Menschenrechten bestellt ist. âDa Frontex keine Hoheitskompetenz hat, sondern nur die Mitgliedsstaaten unterstĂŒtzt, wenn diese Bedarf anmelden, habe man seitens der Agentur zunĂ€chst auch damit argumentiert, dass die Grundrechte durch die Nationalstaaten gesichert werdenâ, erlĂ€utert Slominski. Doch die Kritik blieb bestehen, auch weil der Handlungsspielraum von Frontex als europĂ€ische Einrichtung von vielen Unklarheiten begleitet ist.
Wachsende Kooperation und Kompetenzen
Nicht zuletzt aufgrund der SensibilitĂ€t des Themas hat Frontex inzwischen einzelne Schritte gesetzt und sich etwa per Verhaltenskodex den Grundrechten verpflichtet. Eine Reform der Agentur 2010/11 brachte weitere VerĂ€nderungen. Eigene Einrichtungen, wie das Consultative Forum, wurden geschaffen und Grundrechtsexperten ernannt, die intern die AktivitĂ€ten der Agentur auf Grundrecht-KonformitĂ€t prĂŒfen. âSeitdem sind auch die anderen Agenturen prĂ€sentâ, sagt Peter Slominski. Frontex arbeitet unter anderem mit dem EuropĂ€ischen UnterstĂŒtzungsbĂŒro fĂŒr Asylfragen EASO und der EuropĂ€ischen Grundrechteagentur FRA mit Sitz in Wien zusammen. Wie die Zusammenarbeit von Frontex mit diesen beiden Agenturen funktioniert, ist im Fokus des Forschers. âDie Agenturen treffen sich regelmĂ€Ăig und das politische Bekenntnis zusammenzuarbeiten, hat eine institutionalisierte Grundlage bekommenâ, erklĂ€rt Slominski. An Bedeutung hat die Zusammenarbeit der drei Agenturen auch in der Praxis gewonnen, als die EU 2015 mit der Einrichtung von Hotspots in den von der Migration am meisten betroffenen LĂ€ndern wie Griechenland oder Italien reagierte. Die MaĂnahme sollte helfen, ankommende FlĂŒchtlinge schnell zu identifizieren und zu registrieren sowie die geplanten Umverteilungen auf die Mitgliedsstaaten umzusetzen. Frontex und EASO haben in den Hotspots die entsprechende Infrastruktur mitaufgebaut, stellen GerĂ€te zur VerfĂŒgung, unterstĂŒtzen bei der Abwicklung von Asylverfahren und FRA fĂŒhrt Schulungen durch. âHier sind die Agenturen sehr prĂ€sent, kooperieren miteinander und haben dadurch einen Kompetenzschub bekommenâ, schildert Peter Slominski, der zahlreiche Interviews mit Verantwortlichen gefĂŒhrt hat. Doch offen geblieben ist bis heute unter anderem die Antwort auf die Frage der Umverteilung, zu der es nach wie vor keinen politischen Konsens gibt. Mit dem Ergebnis, dass viele FlĂŒchtlinge in den Lagern bleiben oder in andere LĂ€nder âdurchgewunkenâ werden.
Der kleinste gemeinsame Nenner
âDie Agenturen funktionieren nur dann, wenn die Mitgliedsstaaten kooperierenâ, bringt es der Wissenschaftler auf den Punkt. EU-Agenturen wie Frontex sind eine Kompromisslösung der europĂ€ischen Institutionen. Sie operieren zwar im Alltag unabhĂ€ngig, haben aber keine Entscheidungsbefugnisse. Das heiĂt, die Agenturen ĂŒben de facto oft mehr an Kompetenzen aus als ihnen formal zusteht. Das erzeugt eine Dynamik, die es einerseits ermöglicht, rasch und flexibel zu agieren, andererseits passiert vieles in einem Graubereich. Was das ĂŒber die EU-Grenzpolitik sagt, unter anderem in Hinblick darauf, dass Frontex bis 2027 auf 10.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter anwachsen soll, ist auch dem Forscher nicht ganz klar. âIch vermute, dass Pools von GrenzschĂŒtzern, die schon jetzt operieren, geschaffen werden sollen.â, erklĂ€rt Slominski. Einigkeit gĂ€be es unter den Mitgliedstaaten jedenfalls nur im Bekenntnis zu sicheren Grenzen, was ein instabiles Gleichgewicht innerhalb der EuropĂ€ischen Union erzeuge. Und die Frage bleibt offen, inwieweit die Agenturen, die nicht staatsunabhĂ€ngig operieren können, grundrechtskonform agieren oder ob es RechtsschutzlĂŒcken gibt. Auch wenn der Stellenwert der Agenturen wachse, werde man um grundsĂ€tzlichere MaĂnahmen wie einer Reform des Dublin-Regimes und einer StĂ€rkung der innereuropĂ€ischen SolidaritĂ€t langfristig nicht herum kommen, ist der Politikwissenschaftler ĂŒberzeugt.
Zu den Personen Der Politikwissenschaftler und Soziologe Peter Slominski forscht am Zentrum fĂŒr europĂ€ische Integrationsforschung EIF der UniversitĂ€t Wien. Er beschĂ€ftigt sich mit Fragen zur europĂ€ischen Integration mit den Schwerpunkten auf EU-Migrations- und Klimapolitik. Das FWF-geförderte Projekt âEuropĂ€ische Grenzschutzpolitikâ lĂ€uft noch bis Herbst 2020. Die Politologin Chiara Loschi forscht am Zentrum fĂŒr europĂ€ische Integrationsforschung EIF der UniversitĂ€t Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen auf EU-Grenzschutzpolitik und Grundrechte sowie der Politik des Nahen Ostens und Nordafrika (MENA Region).
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