Wie sich Epilepsie auf Emotion und soziale Kompetenz auswirkt

Vor allem nach kurzen NĂ€chten zucken in der FrĂŒh die Schultern, Arme oder der ganze Körper. Bei milder AusprĂ€gung wird dieses Zucken von den Betroffenen oft als Ausdruck von NervositĂ€t verkannt. Doch die Ursache könnte auch in einer juvenilen myoklonischen Epilepsie (JME) liegen. Wie der Name bereits sagt, tritt die JME im Jugendalter auf â meist erstmals zwischen 12 und 18 Jahren. Rund 80.000 Menschen leben in Ăsterreich mit Epilepsie, 5 bis 10 Prozent davon mit JME. Das Spektrum reicht von milden AusprĂ€gungen bis hin zu schweren VerlĂ€ufen, bei denen neben den oben beschriebenen Muskelzuckungen (Myoklonien) auch âklassischeâ AnfĂ€lle (Grand-mal-AnfĂ€lle) auftreten. Zu den hĂ€ufigen Begleiterscheinungen zĂ€hlen aber auch psychiatrische Erkrankungen wie zum Beispiel Persönlichkeitsstörungen. AuĂerdem weisen Betroffene BeeintrĂ€chtigungen in der sozialen Kognition auf.
Funktionelle und morphologische Beschreibung
Damit ist die Art und Weise gemeint, wie man Informationen einer sozialen RealitĂ€t interpretiert. Die soziale Kognition umfasst mehrere Subprozesse wie Empathie, Emotionsregulation, Emotionserkennung, Erkennen der Prosodie und die in der Fachsprache sogenannte âTheory of Mindâ. Ein Beispiel: Reicht mir eine Person lĂ€chelnd die Hand, kann ich als gesunde Person die Schlussfolgerung daraus ziehen, dass sie mir freundlich gesinnt ist. âBildgebende Studien weisen bei Personen mit JME auf VerĂ€nderungen im Bereich der Stirnhirnrinde sowie im Bereich des limbischen Systems hin, welche fĂŒr die Verarbeitung von Emotionen und Informationen wichtig sindâ, schildert Julia Höfler von der UniversitĂ€tsklinik fĂŒr Neurologie in Salzburg. Und sie betont: âDas bedeutet, Menschen mit JME haben vermehrt Schwierigkeiten im psychosozialen Verhalten, jedoch keine intellektuellen EinschrĂ€nkungen. Die Folgen zeigen sich in privaten Beziehungen sowie im Berufsleben.â Bis dato gab es keine funktionelle und morphologische Beschreibung hinsichtlich der sozialen Kognition und der Emotionsverarbeitung bei JME. Julia Höfler und ihr Kollege Giorgi Kuchukhidze haben diese LĂŒcke nun in einem vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Projekt geschlossen.
Rekrutierung: Herausfordernde Bedingungen
62 Personen mit JME-Diagnose, 17 Geschwister und 67 Kontrollpersonen haben an der klinischen Studie teilgenommen. Die Rekrutierung stellte das Forschungsteam vor eine Herausforderung: âMenschen mit JME sind oft sehr komplexe Persönlichkeiten und in ihrem Alltag beruflich und privat eingebunden. Aufgrund des hohen zeitlichen Aufwands mussten wir Wege finden, um die Motivation zu erhalten und auch Compliance-Probleme zu ĂŒberwinden. Doch die Studie war ein Herzensprojekt und deshalb waren wir bereit, ans Maximum zu gehenâ, erlĂ€utert Höfler. Ein gewisser Bias lieĂ sich trotz des beherzten Einsatzes nicht verhindern: WĂ€hrend Menschen mit schwerer JME schwieriger zu erreichen sind, kommen jene mit leichten Formen meist gar nicht erst in die Klinik. Deshalb sind ganz schwere und ganz leichte VerlĂ€ufe nicht zur GĂ€nze abgebildet.
Emotionserkennung und -wahrnehmung
Im ersten Teil der Studie wurden den Teilnehmenden Bilder von Gesichtern prĂ€sentiert, deren Emotionen sie erkennen und benennen sollten. âMenschen mit JME schnitten signifikant schlechter ab, speziell bei der Emotion Angst.â FĂŒr die Untersuchung der Emotionswahrnehmung wurden den Teilnehmenden kurze Filmausschnitte von erschrockenen Gesichtern gezeigt, wĂ€hrend sie im MRT-Scanner lagen (z. B. Jodie Foster in âThe Birdsâ). âBei gesunden Menschen war die Amygdala beidseitig aktiviert. Bei Menschen mit JME war sie im Vergleich deutlich geringer aktivâ, fasst Höfler die Ergebnisse zusammen.
Soziale Kognition: Theory of Mind
Im zweiten Teil wurde die Theory of Mind untersucht. Damit ist die FĂ€higkeit gemeint, RĂŒckschlĂŒsse auf den mentalen Zustand des anderen â seine Intention, Ăberzeugung und Emotion â auf Basis von dessen Verhalten zu ziehen. âDieses Paradigma haben wir uns angesehenâ, sagt Höfler. Den Teilnehmenden wurden Geschichten vorgelesen; anschlieĂend sollten sie beurteilen, ob eine bestimmte Situation in der Geschichte einen Fauxpas darstellte oder nicht. âMenschen mit JME konnten die Situation seltener richtig einschĂ€tzen.â Ăhnlich wurde im MRT-Scanner vorgegangen: Die Teilnehmenden sollten beurteilen, ob eine Aussage in Bezug auf eine zuvor gelesene Geschichte richtig oder falsch ist. Höfler: âAuch hier haben Menschen mit JME schlechter abgeschnitten. Und wir konnten feststellen, dass wichtige Abschnitte im Gehirn â das verbindende Netzwerk zwischen SchlĂ€fen und Scheitellappen â weniger aktiv waren als bei den gesunden Menschen.â
Ergebnisse bestÀtigen Hypothese
âDie Ergebnisse bestĂ€tigen unsere Hypothese, dass Menschen mit JME Defizite in der Emotionswahrnehmung und -erkennung sowie der sozialen Kognition aufweisen. Diese Defizite zeigten sich sowohl in neuropsychologischen Untersuchungen als auch in der strukturellen und funktionellen Bildgebungâ, fasst Julia Höfler zusammen. ZusĂ€tzlich hat die Studie einen Zusammenhang zwischen der Dauer der Erkrankung und Defiziten in der Emotionserkennung gezeigt.
Entwicklung und Ausbau der Behandlung
Psychotherapeutische Interventionen können hier hilfreich sein, um Menschen mit JME bestmöglich zu unterstĂŒtzen. âWir haben deshalb an der Klinik eine psychosomatische Sprechstunde fĂŒr Epilepsiepatient:innen eingefĂŒhrt.â Eine mögliche Verbesserung der Behandlung habe viele Betroffene motiviert, an der Studie teilzunehmen, so Höfler: âDer Wunsch, dass es anderen Betroffenen in Zukunft einmal besser geht, war fĂŒr viele ein Anreiz mitzumachen. Die Patient:innen honorieren unabhĂ€ngige wissenschaftliche Eigenstudien.â
Zur Person
Nach dem Medizinstudium begann Julia Höfler 2005 mit der Ausbildung zur Neurologin an der UniversitĂ€tsklinik fĂŒr Neurologie in Innsbruck. Im Jahr 2010 wechselte sie nach Salzburg, wo sie derzeit als OberĂ€rztin an der UniversitĂ€tsklinik fĂŒr Neurologie, neurologische Intensivmedizin und Neurorehabilitation arbeitet. Seit Beginn ihrer Laufbahn hat sich Höfler auf die Behandlung von Menschen mit Epilepsie und auf die klinische Forschung zu diesem Thema spezialisiert. Im Zuge des mit 300.656 Euro finanzierten FWF-Projekts âEmotionserkennung und soziale Kognition bei Patienten mit juveniler myoklonischer Epilepsieâ (2016â2021) unter der Leitung des Neurologen Eugen Trinka hat sich Höfler mit bildgebenden und neuropsychologischen Untersuchungen hinsichtlich des limbischen Systems und der Emotionsverarbeitung beschĂ€ftigt.
Publikation
Kuchukhidze G., Höfler J., Kronbichler M., Schmid E. et al.: Emotion recognition and social cognition in juvenile myoclonic epilepsy, in: Zeitschrift fĂŒr Epileptologie 2019