Epilepsie tritt häufig erstmals im Kindes- und Jugendalter auf.
Zwischen 4.000 bis 8.000 junge Menschen sind in Österreich von einer bestimmten Form von Epilepsie betroffen. Dieses Syndrom kann sich auf die sozialen Kompetenzen auswirken, wie Forschende nun eindeutig nachweisen konnten. © Norma Mortenson/Pexels

Vor allem nach kurzen Nächten zucken in der Früh die Schultern, Arme oder der ganze Körper. Bei milder Ausprägung wird dieses Zucken von den Betroffenen oft als Ausdruck von Nervosität verkannt. Doch die Ursache könnte auch in einer juvenilen myoklonischen Epilepsie (JME) liegen. Wie der Name bereits sagt, tritt die JME im Jugendalter auf – meist erstmals zwischen 12 und 18 Jahren. Rund 80.000 Menschen leben in Österreich mit Epilepsie, 5 bis 10 Prozent davon mit JME. Das Spektrum reicht von milden Ausprägungen bis hin zu schweren Verläufen, bei denen neben den oben beschriebenen Muskelzuckungen (Myoklonien) auch „klassische“ Anfälle (Grand-mal-Anfälle) auftreten. Zu den häufigen Begleiterscheinungen zählen aber auch psychiatrische Erkrankungen wie zum Beispiel Persönlichkeitsstörungen. Außerdem weisen Betroffene Beeinträchtigungen in der sozialen Kognition auf.

Funktionelle und morphologische Beschreibung

Damit ist die Art und Weise gemeint, wie man Informationen einer sozialen Realität interpretiert. Die soziale Kognition umfasst mehrere Subprozesse wie Empathie, Emotionsregulation, Emotionserkennung, Erkennen der Prosodie und die in der Fachsprache sogenannte „Theory of Mind“. Ein Beispiel: Reicht mir eine Person lächelnd die Hand, kann ich als gesunde Person die Schlussfolgerung daraus ziehen, dass sie mir freundlich gesinnt ist. „Bildgebende Studien weisen bei Personen mit JME auf Veränderungen im Bereich der Stirnhirnrinde sowie im Bereich des limbischen Systems hin, welche für die Verarbeitung von Emotionen und Informationen wichtig sind“, schildert Julia Höfler von der Universitätsklinik für Neurologie in Salzburg. Und sie betont: „Das bedeutet, Menschen mit JME haben vermehrt Schwierigkeiten im psychosozialen Verhalten, jedoch keine intellektuellen Einschränkungen. Die Folgen zeigen sich in privaten Beziehungen sowie im Berufsleben.“ Bis dato gab es keine funktionelle und morphologische Beschreibung hinsichtlich der sozialen Kognition und der Emotionsverarbeitung bei JME. Julia Höfler und ihr Kollege Giorgi Kuchukhidze haben diese Lücke nun in einem vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Projekt geschlossen.

Rekrutierung: Herausfordernde Bedingungen

62 Personen mit JME-Diagnose, 17 Geschwister und 67 Kontrollpersonen haben an der klinischen Studie teilgenommen. Die Rekrutierung stellte das Forschungsteam vor eine Herausforderung: „Menschen mit JME sind oft sehr komplexe Persönlichkeiten und in ihrem Alltag beruflich und privat eingebunden. Aufgrund des hohen zeitlichen Aufwands mussten wir Wege finden, um die Motivation zu erhalten und auch Compliance-Probleme zu überwinden. Doch die Studie war ein Herzensprojekt und deshalb waren wir bereit, ans Maximum zu gehen“, erläutert Höfler. Ein gewisser Bias ließ sich trotz des beherzten Einsatzes nicht verhindern: Während Menschen mit schwerer JME schwieriger zu erreichen sind, kommen jene mit leichten Formen meist gar nicht erst in die Klinik. Deshalb sind ganz schwere und ganz leichte Verläufe nicht zur Gänze abgebildet.

Emotionserkennung und -wahrnehmung

Im ersten Teil der Studie wurden den Teilnehmenden Bilder von Gesichtern präsentiert, deren Emotionen sie erkennen und benennen sollten. „Menschen mit JME schnitten signifikant schlechter ab, speziell bei der Emotion Angst.“ Für die Untersuchung der Emotionswahrnehmung wurden den Teilnehmenden kurze Filmausschnitte von erschrockenen Gesichtern gezeigt, während sie im MRT-Scanner lagen (z. B. Jodie Foster in „The Birds“). „Bei gesunden Menschen war die Amygdala beidseitig aktiviert. Bei Menschen mit JME war sie im Vergleich deutlich geringer aktiv“, fasst Höfler die Ergebnisse zusammen.

Soziale Kognition: Theory of Mind

Im zweiten Teil wurde die Theory of Mind untersucht. Damit ist die Fähigkeit gemeint, Rückschlüsse auf den mentalen Zustand des anderen – seine Intention, Überzeugung und Emotion – auf Basis von dessen Verhalten zu ziehen. „Dieses Paradigma haben wir uns angesehen“, sagt Höfler. Den Teilnehmenden wurden Geschichten vorgelesen; anschließend sollten sie beurteilen, ob eine bestimmte Situation in der Geschichte einen Fauxpas darstellte oder nicht. „Menschen mit JME konnten die Situation seltener richtig einschätzen.“ Ähnlich wurde im MRT-Scanner vorgegangen: Die Teilnehmenden sollten beurteilen, ob eine Aussage in Bezug auf eine zuvor gelesene Geschichte richtig oder falsch ist. Höfler: „Auch hier haben Menschen mit JME schlechter abgeschnitten. Und wir konnten feststellen, dass wichtige Abschnitte im Gehirn – das verbindende Netzwerk zwischen Schläfen und Scheitellappen – weniger aktiv waren als bei den gesunden Menschen.“

Ergebnisse bestätigen Hypothese

„Die Ergebnisse bestätigen unsere Hypothese, dass Menschen mit JME Defizite in der Emotionswahrnehmung und -erkennung sowie der sozialen Kognition aufweisen. Diese Defizite zeigten sich sowohl in neuropsychologischen Untersuchungen als auch in der strukturellen und funktionellen Bildgebung“, fasst Julia Höfler zusammen. Zusätzlich hat die Studie einen Zusammenhang zwischen der Dauer der Erkrankung und Defiziten in der Emotionserkennung gezeigt.

Entwicklung und Ausbau der Behandlung

Psychotherapeutische Interventionen können hier hilfreich sein, um Menschen mit JME bestmöglich zu unterstützen. „Wir haben deshalb an der Klinik eine psychosomatische Sprechstunde für Epilepsiepatient:innen eingeführt.“ Eine mögliche Verbesserung der Behandlung habe viele Betroffene motiviert, an der Studie teilzunehmen, so Höfler: „Der Wunsch, dass es anderen Betroffenen in Zukunft einmal besser geht, war für viele ein Anreiz mitzumachen. Die Patient:innen honorieren unabhängige wissenschaftliche Eigenstudien.“

Zur Person

Nach dem Medizinstudium begann Julia Höfler 2005 mit der Ausbildung zur Neurologin an der Universitätsklinik für Neurologie in Innsbruck. Im Jahr 2010 wechselte sie nach Salzburg, wo sie derzeit als Oberärztin an der Universitätsklinik für Neurologie, neurologische Intensivmedizin und Neurorehabilitation arbeitet. Seit Beginn ihrer Laufbahn hat sich Höfler auf die Behandlung von Menschen mit Epilepsie und auf die klinische Forschung zu diesem Thema spezialisiert. Im Zuge des mit 300.656 Euro finanzierten FWF-Projekts „Emotionserkennung und soziale Kognition bei Patienten mit juveniler myoklonischer Epilepsie“ (2016–2021) unter der Leitung des Neurologen Eugen Trinka hat sich Höfler mit bildgebenden und neuropsychologischen Untersuchungen hinsichtlich des limbischen Systems und der Emotionsverarbeitung beschäftigt.

Publikation

Kuchukhidze G., Höfler J., Kronbichler M., Schmid E. et al.: Emotion recognition and social cognition in juvenile myoclonic epilepsy, in: Zeitschrift für Epileptologie 2019