„Nie stehenbleiben, immer weiterdenken“
Peter Holzer öffnet das große Tor zum Institut für Experimentelle und Klinische Pharmakologie in Graz. Die dahinterliegenden Gänge und Labore sind leer, es ist Wochenende. Der 67-jährige Steirer ist eigentlich schon in Pension, doch zur Ruhe gesetzt hat er sich dennoch nicht. Zumindest noch nicht. Die Dinge neu durchdenken, die Fäden immer weiterspinnen –, dafür lebt der Wissenschaftler. Peter Holzer gilt als einer der Trendsetter im Bereich der Neurogastroenterologie. Ein Forschungsgebiet, das gezeigt hat, dass eine enge Verbindung zwischen Darm und Gehirn besteht. Noch vor wenigen Jahren ein Tabuthema, weisen heute immer mehr Studien darauf hin, dass der Darm nicht nur für das Immunsystem wichtig ist, sondern auch einen Einfluss auf die psychische Gesundheit hat.
„Was im Darm passiert, ist auch für die Gehirnaktivität von Bedeutung und umgekehrt.“
„Was im Darm passiert, ist auch für die Gehirnaktivität von Bedeutung und umgekehrt. Die sogenannte Darm-Hirn-Achse hat die Aufgabe der Kommunikation. In dieser Verbindung gibt es viele Informationskanäle: Nerven, Hormone, Immunmediatoren und auch Metaboliten des Darmmikrobioms“, erklärt Holzer, während er durch die Räumlichkeiten führt und bereitwillig Laienfragen beantwortet. Der Vater von zwei Töchtern ist ein offener Mensch, einer, der den Gesprächsfaden aufnimmt, statt ihn abzuschneiden, der komplexe Sachverhalte auf verständliche Weise erklärt. Vor allem ist er trotz erfolgreicher Karriere am Boden geblieben.
Unzählige Auszeichnungen
Peter Holzer studierte Biologie und Biochemie an der Karl-Franzens-Universität Graz. Nach seiner Habilitation in Neuropharmakologie forschte er am Department of Medicine der University of California. Bis er schlussendlich wieder zu den Wurzeln in Graz zurückkehrte – an das Institut für Experimentelle und Klinische Pharmakologie, wo er schon in seiner Studentenzeit als Assistent tätig war, und wo er nun sein eigenes Büro besitzt. Unzählige Auszeichnungen zieren hier die Wände und Regale, die er für seine Forschungen über die neuronale Steuerung von Darmfunktionen und viszeralen Schmerz erhalten hat. Auf welche er besonders stolz ist? „Der Masters Award der American Gastroenterological Association war sicher eine der schönsten Ehrungen“, sagt er und deutet auf ein Foto im Regal, das ihn bei der Verleihung in Los Angeles zeigt. Unweit davon hat das Große Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich seinen Platz, das dem Professor im Jahr 2006 verliehen wurde. „Ich erinnere mich aber auch gerne zurück, dass ich schon 1988 den damals recht angesehenen Sandoz-Preis für Medizin bekommen habe. Letztlich, wenn man so alt ist, sind rückblickend die Preise, die man in jüngeren Jahren bekommen hat, am schönsten.“
Die Neurogastroenterologie
Die Neurogastroenterologie ist ein vergleichsweise sehr junges Gebiet, das sich erst in den 1990er Jahren als solches etabliert hat. Peter Holzer gehörten zu den ersten, die sich damit intensiv auseinandergesetzt haben. Was ihn dazu geführt hat? „Ich habe mich ursprünglich mit der Darmmotorik beschäftigt, mit dem Nervensystem in der Darmwandmuskulatur, die den Verdauungsprozess fördert. Damals wurde dieses Thema gerade groß, weil neue Signalstoffe im Nervensystem entdeckt wurden. Diese Neuropeptide fand man im Gehirn und im Darm.“ Zum anderen setzte er sich auch mit Schmerzmechanismen auseinander. Man hatte gerade erst die Wirkungsweise des scharfen Wirkstoffs in Chili auf schmerz- und hitzeempfindliche Nervenfasern erkannt. Holzer beschäftigte sich mit der Wirkung im Magen-Darm-Bereich und zwar so intensiv, dass er während seiner Zeit in Amerika sogar als „Mister Capsaicin“ bekannt war, wie er sich heute sichtlich amüsiert erinnert. Seine Erkenntnis: „Capsaicin greift die Magenschleimhaut nicht an, sondern verstärkt deren Verteidigungsmechanismen, indem es die Durchblutung anregt. Es ist in der Lage, Schmerzen zu dämpfen oder zu nehmen.“ Und so führte das eine zum anderen.
„Viele Reizdarm-Patienten haben Depressionen und Angstzustände.“
Reizdarmsyndrom
„Man soll nie stehenbleiben, sondern immer weiterdenken“, lautet das Lebensmotto von Peter Holzer. „Ich habe mich dem Bauchschmerz zugewendet und bin durch die Beschäftigung mit dem Reizdarmsyndrom ins Hauptthema der Neurogastroenterologie vorgestoßen.“ Die Ursachen für diese Erkrankung sind nach wie vor nicht ganz klar. Mittlerweile ist man zumindest übereingekommen, dass es sich um eine Störung der Darm-Hirn-Kommunikation handelt. Eine wichtige Rolle kommt hier dem Vagus-Nerv zu: „Früher dachte man, der Vagus-Nerv ist nur für die physiologische Steuerung der Verdauung zuständig. Dabei laufen viele der Nerven im Vagus von der Peripherie nach oben zum Gehirn. Seine emotionale Komponente ist nicht zu vernachlässigen. Wenn man länger Schmerz hat, dann leidet man auch. Viele Reizdarm-Patienten haben Depressionen und Angstzustände.“ Und so entstand die Idee, dass psychiatrische Erkrankungen unter anderem durch Störungen des Mikrobioms verursacht werden könnten. Solche Störungen entstehen etwa durch Infekte und Entzündungen, aber auch durch Umweltfaktoren wie etwa ungesunde Ernährung und bestimmte Medikamente. Auch Stresshormone können die Nerven- und Immunzellen im Darm beeinflussen. Genetische Faktoren haben laut Holzer nur einen geringen Einfluss.
Verhaltensänderungen
„Man konnte Verhaltensänderungen und kognitive Einschränkungen bei Mäusen sehen, denen der Stuhl von depressiven Patienten verpflanzt worden ist“, schildert der Experte. Doch trotz dieser Erkenntnisse stecke die Forschung noch in den Kinderschuhen, betont er: „Es gibt noch Einschränkungen in der Interpretation der kausalen Ketten. Das klassische Henne-Ei-Problem. Man muss vorsichtig zu Werke gehen und Prinzipien der guten Wissenschaft nicht verlassen.“ Dass Wissenschaft mittlerweile auch Teil der Hauptnachrichten ist, freut ihn. Doch warnt er vor zu großen Versprechungen. „Man wird leicht mitgerissen von diesen neuen Ideen. Man muss sich selbst immer wieder am Schopf packen und nach den Unsicherheiten fragen, die es noch zu klären gilt.“ Der erfahrene Forscher hat schon viele Hypes miterlebt und reagiert auf aktuelle Schlagzeilen oft nur noch mit einem müden Lächeln. Ob ihm die beinahe wöchentlichen Medienanfragen manchmal zu viel werden? „Schon. Andererseits arbeiten wir mit öffentlichen Geldern und haben daher die Pflicht und die Aufgabe die Öffentlichkeit zu informieren und zwar in einer Weise, dass diese die Zusammenhänge versteht.“ Das hat auch den einen oder anderen Nebeneffekt: „Immer, wenn etwas in der Zeitung oder im Fernsehen erscheint, bekomme ich Mails. Die Leute schreiben mir seitenlang ihre Krankengeschichte und fragen mich, ob sie zu mir in die Ordination kommen können. Aber ich bin kein Arzt.“
„Die Grundlagenforschung ist im Vergleich zu Ländern wie Deutschland oder Schweiz unterdotiert.“
Kontinuierliche Förderungen durch den FWF
Seit 1982 erhält Holzer Förderungen des FWF. „Eine Erfolgsgeschichte, auf die ich auch stolz bin. Ich habe schon in jüngeren Jahren gesagt, als Forscher möchte ich mein eigener kleiner unabhängiger Unternehmer sein. Das ist mir geglückt.“ Wie er die österreichische Forschungslandschaft beurteilt? „Die Grundlagenforschung ist im Vergleich zu Ländern wie Deutschland oder Schweiz unterdotiert. Und gegenüber den USA fällt auf, dass das private Sponsoring von Grundlagenforschung unterentwickelt ist. Wir haben hier keine Tradition.“ In seinem aktuellen Einzelprojekt, das sein letztes sein wird wie er sagt, beschäftigt sich Peter Holzer mit Fragen rund um das Immunsystem – ein wichtiger Informationsträger der Darm-Hirn-Achse. Wie wirken Immunstimuli aus dem Darmbereich auf das Gehirn ein? Wie kann das Immunsystem Gehirnfunktionen und Verhalten ändern? Die Komplexität des Systems macht es schwierig, einfache Antworten auf konkrete Fragen zu geben. Das ist die Herausforderung der Zukunft. „Wir wollen Erkenntnisse gewinnen, die Ansätze für neue Behandlungsformen etwa gegen Depressionen bieten können.“ Peter Holzer spricht immer von „wir“. Wen meint er damit? „Meine Arbeitsgruppe. Das ist wichtig zu betonen. Man hat kein Exklusivrecht auf Ideen. Man setzt sie gemeinsam im Labor um.“ Und da ist sie wieder, die Bescheidenheit.
„Als Gymnasiast wollte ich Schriftsteller werden.“
Berufswunsch Schriftsteller
Ob er immer schon Wissenschafter werden wollte? „Als Gymnasiast wollte ich Schriftsteller werden. Im wissenschaftlichen Bereich hilft das, wenn man gerne schreibt.“ Kritisch ist er bei den Manuskripten seiner Mitarbeiterinnen und Doktoranden. „Die korrigierten Versionen schauen sehr bunt aus. Ich muss mich da immer entschuldigen“, räumt er ein. Als Dekan für Doktoratsstudien wird Peter Holzer der Wissenschaft jedenfalls noch für einige Zeit treu bleiben. „Es gibt hier viele talentierte Menschen, die ich ideell weiterhin unterschützen werde. Ich gebe meine Erfahrungen, die ich gesammelt habe, gerne weiter.“ Eine letzte Frage noch: Wo sind denn die Mäuse? „Da gibt es eigene Stallungen. Da darf ich Sie aber nicht mit reinnehmen“, lacht er und öffnet das Tor zum Abschied.
Peter Holzer ist emeritierter Professor für Experimentelle Neurogastroenterologie an der Medizinischen Universität Graz. Seine Forschungsschwerpunkte sind Darmmotorik, Bauchschmerz und damit zusammenhängende neuropsychiatrische Störungen. Nach seinem Studium der Biologie und Biochemie an der Universität Graz und seiner Habilitation in Neuropharmakologie forschte er am Department of Medicine der University of California in Los Angeles. 1990 kehrte er nach Graz zurück. Neben zahlreichen Auszeichnungen erhielt Holzer 2006 den Masters Award for Basic Research in Digestive Sciences der American Gastroenterological Association und im selben Jahr das Große Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich.