Sehstörungen sind eine der Folgen von Diabetes. Dafür ist ein verringerter Sauerstofftransport in die Netzhaut verantwortlich, wie eine klinische Studie mit Patient:innen im Alter von durchschnittlich 65 Jahren bestätigt. © Pexels

Leonardo da Vinci, Universalgenie der Renaissance, bezeichnete das Auge als Fenster zur Seele. Augenarzt Gerhard Garhöfer will ihm nicht widersprechen. Der klinische Pharmakologe möchte aber die Bedeutung für Forschung und Heilkunde unterstreichen und nennt es „ein Fenster zur Mikrozirkulation in den feinsten Blutgefäßen“. Die fein verzweigten Gefäße, die die Netzhaut versorgen, sind im Auge gut zu sehen. Überall im Körper (von Niere bis Zehe) bewerkstelligen sie den Gas- und Stoffwechsel im Gewebe. Nicht nur Augenerkrankungen, sondern auch diverse andere Krankheiten können sich am Zustand der Blutgefäße zeigen. So auch die weitverbreitete Diabetes Typ 2. Das ist die Form der schweren Stoffwechselerkrankung, die stark an Alter und Lebensstil geknüpft ist. In Garhöfers Arbeitsgruppe ist es mit Unterstützung des Wissenschaftsfonds FWF gelungen, den bisher nur vermuteten Zusammenhang zwischen vermindertem Sauerstofftransport in der Netzhaut und der medizinisch als diabetische Retinopathie bezeichneten Netzhautschädigung zu belegen, die letztlich zu einer irreversiblen Sehbehinderung führt.

Geschädigte und überforderte Mikrogefäße

Diabetische Retinopathie ist heute die häufigste Ursache für Erblinden in Industrienationen. Die verbreitete Komplikation am Auge tritt bei rund der Hälfte der Patient:innen mit Diabetes Typ 2 auf, die lange erkrankt und/oder schlecht eingestellt sind. Der hohe Blutzuckerspiegel schädigt die Blutgefäße, sodass diese ihre Arbeit nicht mehr machen können. Zwar reagiert der Körper auf den Sauerstoffmangel in der Netzhaut, indem er neue Blutgefäße bildet, doch sind diese nicht funktionstüchtig und schränken das Sehvermögen zunehmend ein. Weil Diabetes Typ 2 weiter stark auf dem Vormarsch ist, steigt in absehbarer Zeit auch die Zahl der Fälle mit dieser Folgeerkrankung. Der Atlas der International Diabetes Federation (IDF) schätzt, dass im Jahr 2019 weltweit 9,3 Prozent der Bevölkerung, das entspricht 463 Millionen Menschen, an Diabetes erkrankt waren – vor allem in Städten und in Ländern mit höherem Durchschnittseinkommen. Diese Zahl soll bis 2030 auf 10,2 Prozent (578 Millionen) steigen. Es dauert oft, bis die Diagnose gestellt wird: Eine:r von zwei an Diabetes Erkrankten weiß nichts davon.

Berührungslose Messmethoden

Untersucht wurden für die klinische Studie Typ-2-Diabetiker:innen ohne und mit unterschiedlich stark fortgeschrittener Netzhautschädigung. Die 70 Diabetes-Typ-2-Patient:innen waren im Schnitt 65 Jahre alt und wurden verglichen mit einer 20-köpfigen Kontrollgruppe ohne Diabetes. Da die Sauerstoffaufnahme aus dem Blut ins Gewebe nicht direkt gemessen werden kann, wurden Blutfluss (Durchblutung) und Sauerstoffsättigung in der Netzhaut der Patient:innen berührungslos gemessen. In einem Vorprojekt wurde bereits ein mathematisches Modell entwickelt, das die Daten der Messungen (mittels Doppler Optischer Koheränztomografie und Oximetrie) in Werte für die Sauerstoffaufnahme im Gewebe umrechnet.


Berührungslose Messung der Sauerstoffsättigung an den Netzhautgefäßen. In der Bildmitte befindet sich der Sehnervenkopf, durch den die Gefäße in die Netzhaut eintreten: blau – niedrige Sättigung, rot – hohe Sättigung.

 

MedUni Wien/Garhöfer


Die Untersuchungen belegen den bisher nur vermuteten Zusammenhang deutlich: „Unsere Ergebnisse zeigen, dass mit zunehmender Schwere der Erkrankung immer weniger Sauerstoff den Weg vom Blut ins Gewebe findet. Andererseits zeigte sich, dass auch bei Typ-2-Diabetiker:innen, die noch keine sichtbaren Veränderungen der Netzhaut zeigten, bereits weniger Sauerstoff den Weg in die Retina findet. Bevor sie klinisch diagnostizierbar waren, war also der Gasstoffwechsel bereits gestört.“

Pathophysiologie als Basis der Behandlung

Gerhard Garhöfer arbeitet an der Universitätsklinik für Klinische Pharmakologie der Medizinischen Universität Wien, die Wirkstoffe, Behandlungswege und Heilmittel erforscht und entwickelt. Seine Arbeitsgruppe zum Thema „Augen-Pharmakologie“ ist aufgrund der „Fensterfunktion“ des Auges für viele Fachgebiete interessant. „Um Krankheiten gut behandeln zu können, müssen wir ihre Entstehung und ihr Voranschreiten verstehen. Unsere Forschung hat die Pathophysiologie des Auges bei Diabetes weiter entschlüsselt“, erklärt Garhöfer. Die Studienergebnisse bestätigen, dass bei Patient:innen mit Zuckerkrankheit die Sauerstoffabgabe in die Netzhaut reduziert ist. Die gemessenen Parameter könnten dabei helfen, Hochrisikopatient:innen zu identifizieren und im Hinblick auf Therapie und deren Einhaltung besser zu schulen. Gerhard Garhöfer plant, diese Technik auch auf andere Erkrankungen, beispielsweise neurodegenerative Erkrankungen des Auges, anzuwenden.


Zur Person

Gerhard Garhöfer ist Facharzt für Augenheilkunde an der Medizinischen Universität Wien. Er leitet die Arbeitsgruppe „Ophthalmologische Pharmakologie“ mit den Schwerpunktthemen Arzneimittelentwicklung für das Auge, das Auge als Verabreichungsweg sowie Physiologie und Pharmakologie des Auges. Der assoziierte Professor für Klinische Pharmakologie war Vizepräsident der European Association for Vision and Eye Research (EVER) und ist aktuell Mitglied im Executive Board der European Glaucoma Society (EGS).


Publikationen

Hommer N., Kallab M., Schlatter A. et al.: Retinal Oxygen Metabolism in Patients with Type II Diabetes and Different Stages of Diabetic Retinopathy, in: Diabetes 2022

Hommer N., Kallab M., Schlatter A. et al.: Neuro-vascular coupling and heart rate variability in patients with type II diabetes at different stages of diabetic retinopathy, in: Frontiers in Medicine (Lausanne) 2022