Muttersein kann man lernen
Daniela Pollak ist Neurowissenschaftlerin und Professorin fĂŒr Verhaltensbiologie an der Medizinischen UniversitĂ€t Wien. Sie erforscht, wie mĂŒtterliche FĂŒrsorge entsteht. âMenschen sind wie alle SĂ€ugetiere als Babys darauf angewiesen, dass sich ein Erwachsener um sie kĂŒmmert. In der Wissenschaft ging man lange davon aus, dass die hormonelle Umstellung im Körper der Frau notwendig ist, damit bei ihr ein fĂŒrsorgliches Verhalten einsetztâ, sagt Pollak. âAber es gibt sowohl bei Menschen als auch im Tierreich Gegenbeispiele: Adoptiveltern, AmmenmĂŒtter oder pflegende Verwandte zum Beispiel.â
In einem vom FWF geförderten Projekt untersucht Pollak diese Ausnahme bei MĂ€useweibchen, die nicht trĂ€chtig waren und sich um fremde Jungtiere kĂŒmmern. Dabei stieĂ ihr Team auf einen neuen neuronalen Schaltkreis fĂŒr die FĂŒrsorge. Das Fazit: Muttersein kann man lernen! Sollte sich die Entdeckung auch beim Menschen bestĂ€tigen, könnten gezielte Therapien fĂŒr postpartale Störungen entwickelt werden.
Kontakt fördert die FĂŒrsorge
âUnsere Ergebnisse legen nahe, dass FĂŒrsorgeverhalten stimuliert werden kann, auch wenn es zunĂ€chst physiologisch nicht vorhanden istâ, erklĂ€rt Pollak. âDas gelingt zum Beispiel dadurch, dass sich MĂŒtter das Verhalten von anderen MĂŒttern abschauen. Es funktioniert aber auch ohne Vorbilder durch den wiederholten Kontakt mit dem Nachwuchs.â Obwohl Pollaks Analysen auf dem Verhalten von MĂ€usen beruhen, seien zumindest grobe RĂŒckschlĂŒsse auf den Menschen plausibel. âDie Hirnregionen, die fĂŒr das Fortpflanzungs- und FĂŒrsorgeverhalten zustĂ€ndig sind, wurden im Laufe der Evolution stark konserviertâ, sagt Pollak. Daher gibt es Ăhnlichkeiten zwischen dem Verhalten verschiedener SĂ€ugetierarten.
Erfahrung kompensiert den Instinkt
Die hingebungsvolle FĂŒrsorge erkennt man bei MĂ€useweibchen zum Beispiel am âpup retrievalâ â dem hektischen Aufheben und ZurĂŒckbringen der Jungtiere in das sichere Nest, wenn diese sich auĂerhalb davon befinden. âUns interessierte das Verhalten von Weibchen, die zuvor nicht trĂ€chtig waren und dann mit fremden Jungen in Kontakt kamen. Wir brachten diese Tiere in einen KĂ€fig mit Jungen, die abseits des Nests platziert wurden, und beobachteten das âpup retrievalâ-Verhalten der Weibchenâ, beschreibt Pollak den Versuchsaufbau. âAnfangs schienen die Weibchen nicht recht zu wissen, was zu tun war. Doch schon am dritten Tag unterschied sich ihr Verhalten nicht mehr von dem der biologischen MĂŒtter.â
Grund fĂŒr die steile Lernkurve war eine bis dahin unbekannte Verschaltung der Nervenzellen. Denn der Kontakt der Weibchen mit den Jungen verstĂ€rkte im Gehirn der Tiere eine zusĂ€tzliche Kommunikationsschleife zwischen dem prĂ€frontalen Kortex (der als Kontrollzentrum gilt) und einem Kerngebiet im Thalamus (einem evolutionĂ€r alten Hirnareal). Interessanterweise geschah dies nur bei MĂ€usen, die erst lernen mussten, MĂŒtter zu sein, und nicht bei den biologischen MĂŒttern. Somit konnten die Forschenden zeigen, dass Erfahrung den fehlenden Instinkt kompensieren kann.
Neuronale Achsen zum Leuchten bringen
Um diese neuronale Verschaltung zu finden, nutzte Pollaks Team âviral tracingâ. Das ist eine Methode, bei der Forschende harmlose, fluoreszierende Viren an einem Ende einer neuronalen Leitung einschleusen und sie mithilfe von Licht bis zum anderen Ende verfolgen können. In diesem Fall bildete die Achse einen Feedback-Mechanismus zwischen den genannten Hirnregionen, der die AktivitĂ€t bestimmter Nervenzellen fĂŒr das FĂŒrsorgeverhalten reguliert.