Depressive junge Frau mit Kind auf dem Arm sitzt vor Computer
Wie entsteht der Mutter-Instinkt und warum kämpfen viele Frauen nach der Geburt ihres Kindes mit einer Depression? Forschende in Wien konnten zeigen, dass sich Fürsorgeverhalten erlernen lässt. © unsplash+

Die Geburt eines Kindes will gut vorbereitet sein. Für die Eltern heißt das, den Kinderwagen auszusuchen und das Gitterbett aufzubauen. Gleichzeitig bereitet sich der Körper der Frau auf den Neuankömmling vor: Hormone wie Östrogen und Progesteron regen das Gehirn zum Umbau an, damit die Frau sensibler für die Bedürfnisse des Kindes wird. Zusammen mit dem intensiven Hormonschub, der die Geburt begleitet, löst das den Mutterinstinkt aus. Doch trotz der Freude, die die Geburt eines Kindes mit sich bringt, ist fast jede sechste Mutter von einer postpartalen Depression (Wochenbettdepression) betroffen – möglicherweise, weil die physiologische Anpassung im Gehirn nicht fehlerfrei verläuft. Nun konnte ein vom Wissenschaftsfonds FWF gefördertes Forschungsprojekt zeigen, dass die Situation dennoch nicht ausweglos ist. Das Team hat eine Alternative gefunden, die mütterliche Fürsorge im Gehirn zu verankern: durch Erfahrung.

Muttersein kann man lernen

Daniela Pollak ist Neurowissenschaftlerin und Professorin für Verhaltensbiologie an der Medizinischen Universität Wien. Sie erforscht, wie mütterliche Fürsorge entsteht. „Menschen sind wie alle Säugetiere als Babys darauf angewiesen, dass sich ein Erwachsener um sie kümmert. In der Wissenschaft ging man lange davon aus, dass die hormonelle Umstellung im Körper der Frau notwendig ist, damit bei ihr ein fürsorgliches Verhalten einsetzt“, sagt Pollak. „Aber es gibt sowohl bei Menschen als auch im Tierreich Gegenbeispiele: Adoptiveltern, Ammenmütter oder pflegende Verwandte zum Beispiel.“

In einem vom FWF geförderten Projekt untersucht Pollak diese Ausnahme bei Mäuseweibchen, die nicht trächtig waren und sich um fremde Jungtiere kümmern. Dabei stieß ihr Team auf einen neuen neuronalen Schaltkreis für die Fürsorge. Das Fazit: Muttersein kann man lernen! Sollte sich die Entdeckung auch beim Menschen bestätigen, könnten gezielte Therapien für postpartale Störungen entwickelt werden.

Kontakt fördert die Fürsorge

„Unsere Ergebnisse legen nahe, dass Fürsorgeverhalten stimuliert werden kann, auch wenn es zunächst physiologisch nicht vorhanden ist“, erklärt Pollak. „Das gelingt zum Beispiel dadurch, dass sich Mütter das Verhalten von anderen Müttern abschauen. Es funktioniert aber auch ohne Vorbilder durch den wiederholten Kontakt mit dem Nachwuchs.“ Obwohl Pollaks Analysen auf dem Verhalten von Mäusen beruhen, seien zumindest grobe Rückschlüsse auf den Menschen plausibel. „Die Hirnregionen, die für das Fortpflanzungs- und Fürsorgeverhalten zuständig sind, wurden im Laufe der Evolution stark konserviert“, sagt Pollak. Daher gibt es Ähnlichkeiten zwischen dem Verhalten verschiedener Säugetierarten.

Erfahrung kompensiert den Instinkt

Die hingebungsvolle Fürsorge erkennt man bei Mäuseweibchen zum Beispiel am „pup retrieval“ – dem hektischen Aufheben und Zurückbringen der Jungtiere in das sichere Nest, wenn diese sich außerhalb davon befinden. „Uns interessierte das Verhalten von Weibchen, die zuvor nicht trächtig waren und dann mit fremden Jungen in Kontakt kamen. Wir brachten diese Tiere in einen Käfig mit Jungen, die abseits des Nests platziert wurden, und beobachteten das ‚pup retrieval‘-Verhalten der Weibchen“, beschreibt Pollak den Versuchsaufbau. „Anfangs schienen die Weibchen nicht recht zu wissen, was zu tun war. Doch schon am dritten Tag unterschied sich ihr Verhalten nicht mehr von dem der biologischen Mütter.“

Grund für die steile Lernkurve war eine bis dahin unbekannte Verschaltung der Nervenzellen. Denn der Kontakt der Weibchen mit den Jungen verstärkte im Gehirn der Tiere eine zusätzliche Kommunikationsschleife zwischen dem präfrontalen Kortex (der als Kontrollzentrum gilt) und einem Kerngebiet im Thalamus (einem evolutionär alten Hirnareal). Interessanterweise geschah dies nur bei Mäusen, die erst lernen mussten, Mütter zu sein, und nicht bei den biologischen Müttern. Somit konnten die Forschenden zeigen, dass Erfahrung den fehlenden Instinkt kompensieren kann.

Neuronale Achsen zum Leuchten bringen

Um diese neuronale Verschaltung zu finden, nutzte Pollaks Team „viral tracing“. Das ist eine Methode, bei der Forschende harmlose, fluoreszierende Viren an einem Ende einer neuronalen Leitung einschleusen und sie mithilfe von Licht bis zum anderen Ende verfolgen können. In diesem Fall bildete die Achse einen Feedback-Mechanismus zwischen den genannten Hirnregionen, der die Aktivität bestimmter Nervenzellen für das Fürsorgeverhalten reguliert.

Gehirnscan einer Maus
Bei Mäuseweibchen, die das Fürsorgeverhalten erst erlenen müssen, kommuniziert ein tief im Gehirn gelegenes Gebiet im Thalamus wechselseitig mit dem oberflächlichen präfrontalen Kortex. Die Hirnachse sorgt dafür, dass die Mäuse bei Fürsorge-Tests ebenso gut abschneiden wie biologische Mütter. Zu sehen ist ein Schnitt durch das Gehirn der Maus, in dem die neuronalen Schaltkreise mittels „viral tracing“ nachverfolgt wurden (grün: Virus). © Daniela Pollak

Ergebnisse möglicherweise therapeutisch nutzbar

„Noch wichtiger ist, dass wir in einem zweiten Experiment zeigen konnten, dass das Fürsorgeverhalten ursächlich mit den gefundenen Nervenzellen zusammenhängt“, erklärt Pollak. Dazu wurde der Schaltkreis künstlich aktiviert, wodurch die Mäuse schneller lernten, fürsorglich zu sein. Die Hirnverbindung auf diese Weise auch bei Menschen zu stimulieren, ist derzeit aber noch reine Theorie. „Unsere Idee ist es, die Nervenzellen der Verbindung auf molekularer Ebene zu bestimmen. Wenn wir zum Beispiel einen Rezeptortyp finden, der nur auf diesen Zellen vorkommt, könnte man entsprechende Medikamente entwickeln“, so Pollak.

Bis es so weit ist, erhofft sich die Forscherin aber einen psychotherapeutischen Nutzen der Ergebnisse. „Wir wissen jetzt, dass man den Schaltkreis durch Lernen stimulieren kann. Das gibt all jenen Müttern eine Option, denen die physiologische Bindung zu ihrem Kind fehlt.“ Denn durch den wiederholten Kontakt mit dem Kind und das Lernen von anderen können sie ihr Gehirn darauf trainieren, Mutter zu sein.

Und die Väter?

Es gibt Forschungsergebnisse, laut denen auch das Gehirn von Männern in Vorbereitung auf ein Baby angepasst wird. „In unseren Analysen haben wir aber keine Hinweise darauf gefunden, dass die Achse bei männlichen Tieren aktiv ist“, sagt Pollak. „Nun arbeiten wir an einer Folgestudie, um das genauer zu untersuchen. Denn natürlich ist der Schaltkreis anatomisch auch bei männlichen Mäusen vorhanden. Wenn er nicht diese Funktion erfüllt, dann muss er eine andere haben.“


Zur Person

Daniela Pollak studierte Veterinärmedizin und erhielt ihr Doktorat in der medizinischen Wissenschaft. Nach einem Forschungsaufenthalt an der Columbia University in New York kehrte sie an die Medizinische Universität Wien zurück. Dort ist sie seit 2016 Professorin für Verhaltensbiologie und leitet ein Forschungsteam der Abteilung für Neurophysiologie und -pharmakologie. Pollak erforscht die neurobiologischen Grundlagen von psychiatrischen Störungen – insbesondere rund um das Thema Fortpflanzung und Fürsorgeverhalten. Das Projekt „Neuronale Schaltkreise von erlerntem Fürsorgeverhalten“ läuft bis Ende 2024 und wird vom Wissenschaftsfonds FWF mit rund 400.000 Euro gefördert.

Publikation

Glat M., Gundacker A., Cuenca Ric L., Czuczu B., Ben-Simon Y., Harkany T., Pollak DD.: An accessory prefrontal cortex-thalamus circuit sculpts maternal behavior in virgin female mice, in: The EMBO Journal 2022

Hinweis

Nähere Informationen zum Krankheitsbild der postpartalen Depression finden Sie im öffentlichen Gesundheitsportal unter gesundheit.gv.at.

Im Ratgeber „Eigentlich sollte ich glücklich sein ...“ können sich Mütter, Väter und Angehörige über hilfreiche Tipps sowie Kontaktstellen informieren (erstellt vom Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz).