Gedächtnisprozesse bei Herzstillstand
Was passiert im Gehirn, wenn das Herz still steht? Messungen sollen neue Erkenntnisse liefern. © Shutterstock/fivepointsix

Wie lernen wir Sprachen, wie entstehen Gefühle und was passiert, wenn wir schlafen? Auf viele dieser hoch komplexen Fragen hat die Hirnforschung mithilfe moderner Methoden heute Antworten parat. Die ForscherInnen können die Funktionsweise des Gehirns immer besser erklären und damit wichtige Therapiefortschritte bei neurologischen Erkrankungen wie Schlafstörungen, Migräne, Schlaganfall oder Demenz erzielen. Und dennoch bleibt vieles offen und manches auch umstritten, wenn es um kognitive Fähigkeiten und damit verbunden schwer fassbare Begriffe wie Wahrnehmung, Bewusstsein oder Geist geht.

Großen Rätseln auf der Spur

Ein Forschungsprojekt des Wissenschaftsfonds FWF will nun wissenschaftliche Fakten zu einem dieser noch immer ungelösten Rätsel liefern: Was passiert im Gehirn, wenn Menschen durch einen Herzstillstand an der Schwelle zum Tod stehen und nach ihrer Reanimation von Erinnerungen aus der Zeit des Herzstillstandes berichten? Diese äußerst seltenen, aber doch immer wieder auftretenden Berichte sind aus Sicht der Wissenschaft schwer verständlich. Denn das Gehirn stellt Sekunden nach Unterbrechung der Blutzufuhr seine elektrische Aktivität ein –, oder etwa doch nicht? Noch tappen die ForscherInnen im Dunkeln, doch Projektleiter Roland Beisteiner ist überzeugt, dass es Erklärungen für derartige Erfahrungen gibt: „Bis jetzt gibt es keine detaillierten Nachweise von Hirnaktivität während der Reanimation, das heißt aber nicht, dass es nicht welche gibt“, so der Neurologe der Medizinischen Universität Wien. Denn immer mehr Daten, etwa von KomapatientInnen oder aus dem Bereich der Anästhesie, würden zeigen, dass das Gehirn hohe Kapazitäten besitzt, sich zu regenerieren und Informationen zu verarbeiten, ohne dass das von außen wahrnehmbar ist.

Daten von Gehirnströmen sammeln

„Wir brauchen möglichst viele solcher physiologischen Daten und eine bessere Kontrolle, was im Umfeld von Reanimationen passiert“, sagt Beisteiner. Diese sollen nun gemeinsam mit dem Neurowissenschafter Michael Berger und dem Notfallmediziner Fritz Sterz in der bereits laufenden internationalen Studie AWARE, die von dem in New York tätigen Notfallmediziner Sam Parnia koordiniert wird, erstmals erhoben werden. Bereits im Vorfeld waren die österreichischen ForscherInnen an AWARE („AWAreness during REsuscitation“)  beteiligt und haben Fragebögen von PatientInnen ausgewertet, die wieder „ins Leben zurückgeholt“ wurden. Als nächsten Schritt werden die Notfallstationen von medizinischen Zentren in den USA, Großbritannien und Österreich mit Sensoren zur Registrierung der Durchblutung und der elektrischen Aktivität des Stirnhirns ausgestattet. Aus Tierversuchen wissen die ForscherInnen, dass die Hirnaktivität bei Herzstillstand zwar rapide abfällt, aber zunächst für rund 30 Sekunden weiter messbar ist. Eine kürzlich durchgeführte amerikanische Studie legt sogar nahe, dass das Gehirn für diese Zeit in eine Art Alarmzustand übergeht und Zeichen erhöhter Bewusstseinsaktivität zeigt. Das könnte eine Erklärung für die von einzelnen PatientInnen als „real“ empfundenen Erlebnisse während der vermeintlichen Bewusstlosigkeit sein. Auch für die – noch seltener – berichteten „außerkörperlichen Erfahrungen“ gibt es Erklärungen, denn die visuell-räumliche Wahrnehmung kann manipuliert werden, wie etwa Untersuchungen des in der Schweiz tätigen Neurologen Olaf Blanke belegen. „Blankes Versuche zeigen, dass wir das Gefühl eine Einheit darzustellen, manipulieren können“, sagt Beisteiner. „Das Gehirn scheint die Veranlagung zu haben, dass diese Integration von Raum und Körper gestört werden kann, so dass das Gefühl eines Heraustretens aus dem Körper entsteht“, so der Neurologe.

Wichtige Grundlagenforschung

Das dreijährige FWF-Projekt „Gedächtnisprozesse bei Herzstillstand-PatientInnen“ (2015-2018) soll nicht nur wissenschaftliche Fakten zur Diskussion eines umstrittenen Themas liefern, sondern künftig auch zur Verbesserung des technischen Ablaufes von Reanimationen beitragen. „Wir brauchen diese Forschung, um zu verstehen, was das Gehirn kann. Vor allem ist es für die Behandlung auch wichtig zu wissen, ob Patienten und Patientinnen etwas wahrnehmen, auch wenn es von außen nicht sichtbar ist“, betont Beisteiner.


Zur Person Roland Beisteiner ist Facharzt für Neurologie und Psychiatrie an der Universitätsklinik für Neurologie der Medizinischen Universität Wien. Er erforscht die Funktionen des menschlichen Gehirns mit dem Fokus auf bildgebende Verfahren und ist Experte im Gebiet der klinischen funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT).


Publikation

Erste Ergebnisse der AWARE-Studie wurden in dem Fachmagazin „Resuscitation“ veröffentlicht: AWARE – AWAreness during REsuscitation – A prospective study, Sam Parnia et al, Elsevier, Sept. 2014