Feintuning von Cochlea-Implantaten vervielfacht Hörqualität
Nimmt das Hörvermögen ab, so hilft den betroffenen Menschen meist ein konventionelles Hörgerät. Für Menschen mit hochgradiger Schwerhörigkeit stellen diese Geräte jedoch oft keine ausreichende oder gar keine Lösung dar. Hier kommt ein Cochlea-Implantat zum Einsatz. Diese Technik ermöglicht es, jene Teile des Innenohrs zu umgehen, die nicht mehr funktionieren. Dafür wird ein Elektrodenträger im Innenohr implantiert, der die Nervenfasern in der Cochlea (Hörschnecke) durch elektrische Impulse stimuliert. Das Gehirn empfängt diese Information und interpretiert sie als akustische Reize. Zum Vergleich: Ein Hörgerät nimmt ein akustisches Signal über ein Mikrofon auf und gibt es über einen Lautsprecher akustisch an den Gehörgang weiter.
Individuelle Anpassung ist komplex
Eine patientenspezifische Anpassung eines Cochlea-Implantats ist besonders wichtig für das Sprachverstehen, wo schon schwache Nebengeräusche große Probleme machen können, oder auch für die Freude am Hören von Musik. So gibt es viele Parameter, die man personenbezogen einstellen kann, sowie unzählige Varianten davon, wie der Stromfluss zwischen den Elektroden geregelt werden kann. Obwohl die meisten mit Cochlea-Implantaten versorgten Menschen wieder Sprache verstehen können, gibt es individuelle Unterschiede in der Leistung. Denn durch die limitierte Anzahl von Stimulationselektroden der Cochlea- Implantate können nicht alle individuellen Besonderheiten perfekt nachgebildet werden. „Ein menschlicher Hörnerv besteht aus 30.000 Nervenfasern, die Signale in vielfältigen Pulsmustern verarbeiten“, schildert Anneliese Schrott-Fischer die Herausforderungen. Die Biologin leitet das Labor für Innenohrforschung der Innsbrucker Universitätsklinik für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde. „Umso mehr muss man versuchen, gute künstliche Nervenmuster zu generieren, die dem unterschiedlichen Status der verbliebenen Nervenfasern einer Patientin in allen Frequenzregionen möglichst angepasst sind.“
Präzise Computermodelle des Innenohrs
Diesen Versuch hat Schrott-Fischer gemeinsam mit dem Postdoktoranden Amirreza Heshmat und mit Koryphäen der Medizin- und Simulationstechnologie gestartet – mit Frank Rattay von der Technischen Universität Wien und mit Werner Hemmert von der Technischen Universität München. Das Ziel ihres gemeinsamen, vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Projekts war es, präzise segmentierte Computermodelle der menschlichen Cochlea zu erstellen und den Verlauf der noch vorhandenen Nervenfasern zu rekonstruieren. Als Basis dienten die Computertomografie-Scans von menschlichen Felsenbeinen aus der laboreigenen Sammlung. In einer Computersimulation wurde berechnet, welche Auswirkungen die jeweilige Schwächung eines Ohres auf den Stimulationsstrom hat, mit dem die Nervenfasern in der Hörschnecke stimuliert werden. Damit war das Team in der Lage, die genauen Mechanismen der elektrischen Erregung des Hörnervs besser zu ergründen und bestehende Einschränkungen zu verstehen.
„Unsere Ergebnisse zeigen, dass die Ausbreitung des Stroms im Innenohr extrem weitläufig erfolgt – eine Elektrode, die eigentlich tief im Innenohr sitzt, erregt trotzdem Neuronen, die wesentlich weiter am Eingang der Hörschnecke liegen. Dieses sogenannte Kanalübersprechen ist die Hauptlimitation derzeitiger Cochlea-Implantate“, resümiert Werner Hemmert, Professor für Bioanaloge Informationsverarbeitung. Die Modellrechnungen zeigen zudem, dass die Erregungsmuster der Hörnervenfasern viel unregelmäßiger sind als bisher angenommen. „Das liegt am komplizierten Pfad der Nervenfasern, die durch den zentralen Knochen im Innenohr zunächst einzeln und dann in Bündeln in Richtung Gehirn laufen.“ Durch den schneckenartigen Aufbau des Innenohres kommt es auch zur Stimulation von einzelnen Fasern in einer anderen Windung, was es dem Gehirn wiederum erschwert, die Erregungsmuster korrekt zu interpretieren.
Interdisziplinäre Zusammenarbeit
Die Ergebnisse zeigen nicht nur Einschränkungen auf, sondern schaffen ein großes Potenzial für eine entscheidende Weiterentwicklung bestehender Cochlea-Implantate. Denn die systematische Untersuchung der anatomischen Variationen einer Cochlea und ihrer Auswirkungen ermöglicht eine verbesserte Diagnose des Gesundheitszustandes der Hörnervenfasern. „Das wiederum bildet die Grundlage für patientenspezifische Codierungsstrategien der Implantate“, sagt Frank Rattay, Professor für Computational Neuroscience. „Mit den entsprechenden Messungen könnten Implantate evaluiert werden, bevor sie gebaut, zugelassen und implantiert werden.“ Dann liegt es nur noch am menschlichen Hörsystem, sich an die künstlich erzeugten Aktivitätsmuster des Hörnervs zu gewöhnen – und das bedeutet eine deutlich höhere Lebensqualität für die Betroffenen. Schrott-Fischer betont abschließend: „Für den Erfolg dieses Projektes war die interdisziplinäre Zusammenarbeit aller Gruppen mit ihren unterschiedlichen Forschungsschwerpunkten entscheidend.“ Folgeprojekte sind bereits in Planung, um die Computermodelle zu vervollständigen. „Die Resultate werden für Hersteller von Cochlea-Implantaten von großem Nutzen sein“, sagt Schrott-Fischer.
Zur Person
Anneliese Schrott-Fischer leitet das Labor für Innenohrforschung der Universitätsklinik für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde in Innsbruck. Ihr Lehrer und Mentor Heinrich Spoendlin, ein Pionier der Innenohrforschung, hat maßgeblich dazu beigetragen, dass ihr Forschungsfokus auch nach dem Studium der Biologie das Ohr geblieben ist. In dem vom Wissenschaftsfonds FWF mit 228.000 Euro geförderten Projekt „Elektrische Stimulation des menschlichen Hörnerven“ (2019–2022) forschte Schrott-Fischer mit Amirreza Heshmat, Frank Rattay (TU Wien) und Werner Hemmert (TU München) an Computermodellen zu den komplexen Vorgängen bei der elektrischen Stimulation von Neuronen durch Cochlea-Implantate.
Publikationen
Heshmat A., Sajedi S., Schrott-Fischer A., & Rattay F.: Polarity Sensitivity of Human Auditory Nerve Fibers Based on Pulse Shape, Cochlear Implant Stimulation Strategy and Array, in: Frontiers in Neuroscience 2021
Heshmat A., Sajedi S., Johnson Chacko L., Fischer N., Schrott-Fischer A. & Rattay F.: Dendritic degeneration of human auditory nerve fibers and its impact on the spiking pattern under regular conditions and during cochlear implant stimulation, in: Frontiers in Neuroscience 2020
Potrusil T., Heshmat A., Sajedi S., Wenger C., Chacko L.J., Glueckert R., Schrott-Fischer A. & Rattay F.: Finite element analysis and three-dimensional reconstruction of tonotopically aligned human auditory fiber pathways: a computational environment for modeling electrical stimulation by a cochlear implant based on micro-CT, in: Hearing Research, Vol. 393, 2020