CT-Scan der spiralförmigen Cochlea (Hörschnecke). HochprĂ€zise Computermodelle sollen die Anpassung kĂŒnstlicher Nervenmuster an die verbliebenen intakten Fasern des Hörnervs ermöglichen. © Rudolf GlĂŒckert/Meduni Innsbruck

Nimmt das Hörvermögen ab, so hilft den betroffenen Menschen meist ein konventionelles HörgerĂ€t. FĂŒr Menschen mit hochgradiger Schwerhörigkeit stellen diese GerĂ€te jedoch oft keine ausreichende oder gar keine Lösung dar. Hier kommt ein Cochlea-Implantat zum Einsatz. Diese Technik ermöglicht es, jene Teile des Innenohrs zu umgehen, die nicht mehr funktionieren. DafĂŒr wird ein ElektrodentrĂ€ger im Innenohr implantiert, der die Nervenfasern in der Cochlea (Hörschnecke) durch elektrische Impulse stimuliert. Das Gehirn empfĂ€ngt diese Information und interpretiert sie als akustische Reize. Zum Vergleich: Ein HörgerĂ€t nimmt ein akustisches Signal ĂŒber ein Mikrofon auf und gibt es ĂŒber einen Lautsprecher akustisch an den Gehörgang weiter.

Individuelle Anpassung ist komplex

Eine patientenspezifische Anpassung eines Cochlea-Implantats ist besonders wichtig fĂŒr das Sprachverstehen, wo schon schwache NebengerĂ€usche große Probleme machen können, oder auch fĂŒr die Freude am Hören von Musik. So gibt es viele Parameter, die man personenbezogen einstellen kann, sowie unzĂ€hlige Varianten davon, wie der Stromfluss zwischen den Elektroden geregelt werden kann. Obwohl die meisten mit Cochlea-Implantaten versorgten Menschen wieder Sprache verstehen können, gibt es individuelle Unterschiede in der Leistung. Denn durch die limitierte Anzahl von Stimulationselektroden der Cochlea- Implantate können nicht alle individuellen Besonderheiten perfekt nachgebildet werden. „Ein menschlicher Hörnerv besteht aus 30.000 Nervenfasern, die Signale in vielfĂ€ltigen Pulsmustern verarbeiten“, schildert Anneliese Schrott-Fischer die Herausforderungen. Die Biologin leitet das Labor fĂŒr Innenohrforschung der Innsbrucker UniversitĂ€tsklinik fĂŒr Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde. „Umso mehr muss man versuchen, gute kĂŒnstliche Nervenmuster zu generieren, die dem unterschiedlichen Status der verbliebenen Nervenfasern einer Patientin in allen Frequenzregionen möglichst angepasst sind.“

PrÀzise Computermodelle des Innenohrs

Diesen Versuch hat Schrott-Fischer gemeinsam mit dem Postdoktoranden Amirreza Heshmat und mit KoryphĂ€en der Medizin- und Simulationstechnologie gestartet – mit Frank Rattay von der Technischen UniversitĂ€t Wien und mit Werner Hemmert von der Technischen UniversitĂ€t MĂŒnchen. Das Ziel ihres gemeinsamen, vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Projekts war es, prĂ€zise segmentierte Computermodelle der menschlichen Cochlea zu erstellen und den Verlauf der noch vorhandenen Nervenfasern zu rekonstruieren. Als Basis dienten die Computertomografie-Scans von menschlichen Felsenbeinen aus der laboreigenen Sammlung. In einer Computersimulation wurde berechnet, welche Auswirkungen die jeweilige SchwĂ€chung eines Ohres auf den Stimulationsstrom hat, mit dem die Nervenfasern in der Hörschnecke stimuliert werden. Damit war das Team in der Lage, die genauen Mechanismen der elektrischen Erregung des Hörnervs besser zu ergrĂŒnden und bestehende EinschrĂ€nkungen zu verstehen.

„Unsere Ergebnisse zeigen, dass die Ausbreitung des Stroms im Innenohr extrem weitlĂ€ufig erfolgt – eine Elektrode, die eigentlich tief im Innenohr sitzt, erregt trotzdem Neuronen, die wesentlich weiter am Eingang der Hörschnecke liegen. Dieses sogenannte KanalĂŒbersprechen ist die Hauptlimitation derzeitiger Cochlea-Implantate“, resĂŒmiert Werner Hemmert, Professor fĂŒr Bioanaloge Informationsverarbeitung. Die Modellrechnungen zeigen zudem, dass die Erregungsmuster der Hörnervenfasern viel unregelmĂ€ĂŸiger sind als bisher angenommen. „Das liegt am komplizierten Pfad der Nervenfasern, die durch den zentralen Knochen im Innenohr zunĂ€chst einzeln und dann in BĂŒndeln in Richtung Gehirn laufen.“ Durch den schneckenartigen Aufbau des Innenohres kommt es auch zur Stimulation von einzelnen Fasern in einer anderen Windung, was es dem Gehirn wiederum erschwert, die Erregungsmuster korrekt zu interpretieren.

InterdisziplinÀre Zusammenarbeit

Die Ergebnisse zeigen nicht nur EinschrĂ€nkungen auf, sondern schaffen ein großes Potenzial fĂŒr eine entscheidende Weiterentwicklung bestehender Cochlea-Implantate. Denn die systematische Untersuchung der anatomischen Variationen einer Cochlea und ihrer Auswirkungen ermöglicht eine verbesserte Diagnose des Gesundheitszustandes der Hörnervenfasern. „Das wiederum bildet die Grundlage fĂŒr patientenspezifische Codierungsstrategien der Implantate“, sagt Frank Rattay, Professor fĂŒr Computational Neuroscience. „Mit den entsprechenden Messungen könnten Implantate evaluiert werden, bevor sie gebaut, zugelassen und implantiert werden.“ Dann liegt es nur noch am menschlichen Hörsystem, sich an die kĂŒnstlich erzeugten AktivitĂ€tsmuster des Hörnervs zu gewöhnen – und das bedeutet eine deutlich höhere LebensqualitĂ€t fĂŒr die Betroffenen. Schrott-Fischer betont abschließend: „FĂŒr den Erfolg dieses Projektes war die interdisziplinĂ€re Zusammenarbeit aller Gruppen mit ihren unterschiedlichen Forschungsschwerpunkten entscheidend.“ Folgeprojekte sind bereits in Planung, um die Computermodelle zu vervollstĂ€ndigen. „Die Resultate werden fĂŒr Hersteller von Cochlea-Implantaten von großem Nutzen sein“, sagt Schrott-Fischer.


Zur Person

Anneliese Schrott-Fischer leitet das Labor fĂŒr Innenohrforschung der UniversitĂ€tsklinik fĂŒr Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde in Innsbruck. Ihr Lehrer und Mentor Heinrich Spoendlin, ein Pionier der Innenohrforschung, hat maßgeblich dazu beigetragen, dass ihr Forschungsfokus auch nach dem Studium der Biologie das Ohr geblieben ist. In dem vom Wissenschaftsfonds FWF mit 228.000 Euro geförderten Projekt „Elektrische Stimulation des menschlichen Hörnerven“ (2019–2022) forschte Schrott-Fischer mit Amirreza Heshmat, Frank Rattay (TU Wien) und Werner Hemmert (TU MĂŒnchen) an Computermodellen zu den komplexen VorgĂ€ngen bei der elektrischen Stimulation von Neuronen durch Cochlea-Implantate.


Publikationen

Heshmat A., Sajedi S., Schrott-Fischer A., & Rattay F.: Polarity Sensitivity of Human Auditory Nerve Fibers Based on Pulse Shape, Cochlear Implant Stimulation Strategy and Array, in: Frontiers in Neuroscience 2021

Heshmat A., Sajedi S., Johnson Chacko L., Fischer N., Schrott-Fischer A. & Rattay F.: Dendritic degeneration of human auditory nerve fibers and its impact on the spiking pattern under regular conditions and during cochlear implant stimulation, in: Frontiers in Neuroscience 2020

Potrusil T., Heshmat A., Sajedi S., Wenger C., Chacko L.J., Glueckert R., Schrott-Fischer A. & Rattay F.: Finite element analysis and three-dimensional reconstruction of tonotopically aligned human auditory fiber pathways: a computational environment for modeling electrical stimulation by a cochlear implant based on micro-CT, in: Hearing Research, Vol. 393, 2020