Den Weg zur Diagnose abkĂŒrzen
Das ungewisse GefĂŒhl, dass mit dem eigenen Baby etwas nicht stimmt, gehört zu den schlimmsten Erfahrungen des Elterndaseins. Wenn es sich um seltene Erkrankungen handelt, kann der Weg zur Diagnose zur Odyssee werden, die oft bis ins Kindergarten- oder Vorschulalter dauert. Wenn Eltern mit langem Leidensweg die Erforschung sogenannter Rare Diseases fördern, ersparen sie anderen Familien also viele Strapazen. Auch Peter B. Marschik, Direktor eines interdisziplinĂ€ren Teams zur Erforschung des sich entwickelnden Nervensystems an der Medizinischen UniversitĂ€t Graz, wurde bei seiner Forschung am frĂŒhkindlichen Erscheinungsbild des Fragilen X-Syndroms (kurz FraX) nicht nur vom Wissenschaftsfonds FWF unterstĂŒtzt, sondern auch von Elternvereinigungen in Ăsterreich, Deutschland und den USA.
Abweichungen im neuronalen Trainingsprogramm
Die Wissenschafterinnen und Wissenschafter der Forschungseinheit âinterdisciplinary Developmental Neuroscienceâ (iDN) an der Meduni Graz haben sich in den vergangenen fĂŒnf Jahren mit Krankenakten, Elternbefragungen und Familienvideos auf die Suche nach neurofunktionellen Biomarkern fĂŒr FraX gemacht, die sich schon im ersten Lebensjahr zeigen. Sie sollen kĂŒnftig die Grundlage fĂŒr eine frĂŒhere spezifische Diagnostik und genetische AbklĂ€rung bilden: âBiomarker fanden wir in Lautmustern von Neugeborenen und den ungezielten spontanen Bewegungen, die vom frĂŒhkindlichen Nervensystem ausgehen. Diese frĂŒhen Funktionen sind entscheidend fĂŒr die weitere Entwicklung und eine Art Trainingsprogramm fĂŒr den Aufbau des Nervensystems. Abweichungen in typischen Bewegungsmustern und Lautgebungen sind fĂŒr uns also Hinweise auf das Vorliegen einer Entwicklungsstörungâ, sagt Marschik im GesprĂ€ch mit scilog. Die Forscherinnen und Forscher machten sich zunutze, dass viele Eltern ihre Kleinen stĂ€ndig aufnehmen â und diese privaten Einblicke mit ihnen teilten.
Das Fragile X-Syndrom betrifft in Ăsterreich einen von 4.000 neugeborenen Buben und eines von 6.000 neugeborenen MĂ€dchen, denen man die Erkrankung zunĂ€chst nicht ansieht. Unter den seltenen, genetisch bedingten Entwicklungsstörungen, ausgelöst durch eine Mutation auf dem X-Chromosom, gehört FraX zu den hĂ€ufigsten, die zu einer intellektuellen BeeintrĂ€chtigung fĂŒhren. Die VerhaltensauffĂ€lligkeiten von FraX-Kindern sind fĂŒr Fachleute erkennbar, aber unterschiedlich ausgeprĂ€gt und in sehr frĂŒhen Entwicklungsphasen oft wenig trennscharf zu anderen Störungsbildern.
Intelligente Audioanalyse & Motorik-Aufzeichnung
In Kooperation mit Spezialkliniken wie an der Johns Hopkins School of Medicine in Baltimore (USA) sowie den engagierten Eltern wurden in Graz DatensĂ€tze von 42 FraX-Kindern zusammengetragen und analysiert. Die Methodik der Bewegungsanalyse stammt aus dem Screening und der Begleitung von FrĂŒhgeborenen. Sie wurde fĂŒr die FrĂŒherkennung von FraX eingebunden und besonders durch intelligente Audioanalyse und Machine Learning weiterentwickelt. Ăber detaillierte Lautanalysen konnten einzelne frĂŒhkindliche Laute im Vergleich mit gesunden Babys zu 76 Prozent korrekt den FraX-Kindern zugeordnet werden. Wenn alle Lautgebungen je eines Kindes analysiert wurden, lag die Erkennungsrate bei 100 Prozent: âBestimmte Verhaltensformen beziehungsweise ihre Abweichungen sind Ausdruck der IntegritĂ€t des Nervensystems und haben zu jedem Alter ein typisches Erscheinungsbild, wie ein Fingerabdruckâ, erklĂ€rt der Projektleiter. Auch die Videoanalyse frĂŒhkindlicher BewegungsablĂ€ufe, die unter anderem durch ein Citizen-Science-Projekt mit UnterstĂŒtzung des FWF ermöglicht wurde, erwies sich als hilfreich. An einer entsprechenden maschinellen UnterstĂŒtzung wird gerade intensiv gearbeitet, denn begleitend im Labor aufgenommene Verhaltensparameter sind hierzu geeigneter, als rĂŒckwirkend ausgewertetes Videomaterial. Aufgrund der geringen Fallzahl spricht Peter B. Marschik von âersten Schrittenâ. Mit seinem Team will er die Methode weiter verfeinern und typische Symptomkonstellationen in verschiedenen Altersgruppen herausarbeiten. Diese sollen zudem mit anderen Krankheitsbildern wie dem Rett-Syndrom oder Autismus-Spektrum-Störungen verglichen werden. Derzeit bereitet der Projektleiter weitreichendere Video- und Audioanalysen in Graz und Göttingen vor, bei denen es vor allem um die FrĂŒherkennung von Autismus geht: âUnsere Arbeit zielt darauf ab, das erste Lebensjahr besser zu verstehen und EntwicklungszusammenhĂ€nge zu erkennen.â So kann letztlich Familien frĂŒher geholfen werden, die kindliche Entwicklung begleitet und der Erfolg gezielter Behandlung festgemacht werden.
Zur Person Peter B. Marschik ist assoziierter Professor fĂŒr Physiologie und Neurolinguistik an der klinischen Abteilung fĂŒr Phoniatrie der Medizinischen UniversitĂ€t Graz, wo er die Gruppe âinterdisciplinary Developmental Neuroscienceâ (iDN) zur Erforschung des sich entwickelnden Nervensystems leitet. Er arbeitet eng mit dem Center for Genetic Disorders of Cognition and Behavior der Johns Hopkins University School of Medicine in Baltimore (USA) zusammen, dem Center of Neurodevelopmental Disorders (KIND) des Karolinska Institutet in Stockholm (Schweden) und der Klinik fĂŒr Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie an der UniversitĂ€tsmedizin Göttingen (Deutschland).
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