Der Mikrobiologe Michael Wagner erforscht das Universum der Mikroorganismen, jene unsichtbaren Wesen, die er die Ureinwohner unseres Planeten nennt, die enorm wichtig für das Leben und die Gesundheit sind und deren Vielfalt einen reichen Schatz für die Menschheit bergen. Beim Kajakfahren entspannt sich der Naturliebhaber. © Privat

Es ist das Jahr 1675 in den Niederlanden. Antoni van Leeuwenhoek schaut in eines seiner selbst gebauten Mikroskope. Das Lichtmikroskop ist zwar schon vor seiner Zeit bekannt, weist aber Mängel auf. Der niederländische Naturforscher erlernt die Kunst des Linsenschleifens und verbessert die Technik. Im Laufe seines Lebens baut er über 500 Mikroskope – bestehend aus winzigen, bikonvexen Linsen, die er zwischen zwei Messingplatten befestigt. Damit kann er Objekte, die an einer Nadelspitze befestigt sind, beobachten. An einem Tag in diesem Jahr passiert etwas Revolutionäres: er sieht erstmals Bakterien – er nennt sie Animalcula (Tierchen) – im Teichwasser, im Regenwasser und im menschlichen Speichel. Die Royal Society kommentiert diese Entdeckung zunächst mit Spott, fünf Jahre später werden seine Beobachtungen jedoch bestätigt und 1683 wird van Leeuwenhoek zum Mitglied der ehrenvollen britischen Gelehrtengesellschaft ernannt.

Höchste Anerkennung

„Heute ist die Existenz von Mikroben eine Selbstverständlichkeit, aber dass sich damals jemand sagt, es könnte unsichtbares Leben geben und sich eine Vergrößerung baut um danach zu suchen, das ist ein riesiger Schritt und ein Beispiel dafür, wie wichtig die rein von Neugier getriebene, nicht zweckgebundene Grundlagenforschung ist“, sagt Michael Wagner. Der Mikrobiologe erforscht jenes Universum der Mikroorganismen, auf das van Leeuwenhoek Ende des 17. Jahrhunderts erstmals gestoßen ist. Im Frühjahr 2019 erhielt der Leiter des Zentrums für Mikrobiologie und Umweltsystemforschung der Universität Wien für seine herausragende Arbeit den Wittgenstein-Preis. Mit 1,5 Millionen Euro ist diese Auszeichnung – auch als „Austro-Nobelpreis“ bezeichnet – deutlich höher dotiert als der Nobelpreis.

Ureinwohner der Erde

Der aus München stammende Wissenschaftler freut sich zum einen über die Anerkennung und das Geld, aber auch über die gesteigerte Aufmerksamkeit für die Mikrobiomforschung in Österreich. „Die Mikroben sind die wichtigsten Lebewesen auf der Erde. Milliarden Jahre war unser Planet rein mikrobiell bewohnt. Sie sind die Ureinwohner und haben sich überall auf diesem Planeten angesiedelt – auch in uns, wo sie eine wichtige Rolle für unsere Gesundheit spielen“, gerät der Biologe ins Schwärmen und verdeutlicht die unvorstellbare Größe dieses Paralleluniversums mit einem Beispiel: „In einem Gramm Blumenerde leben ca. 100.000 Arten von Bakterien. In ein paar Löffeln Erde findet man so viele Bakterienzellen wie es Menschen auf der Erde gibt.“

„In einem Gramm Blumenerde leben ca. 100.000 Arten von Bakterien.“ Michael Wagner

Die dunkle Materie der Biologie

Lange arbeitete die Mikrobiologie ausschließlich Anzucht-basiert, indem im Labor die Mikroorganismen vermehrt und dann wieder vereinzelt wurden, um sie zu untersuchen. Das Problem dabei: Bei diesem Vermehrungsprozess gingen die meisten Mikroorganismen verloren und entzogen sich somit jedweder Analyse, ein Phänomen, das man in Anlehnung an die Astronomie „microbial dark matter“ – die dunkle Materie der Biologie – nennt, also jene Millionen an Bakterienarten, die die Welt besiedeln, die aber keiner kennt. Michael Wagner hat bereits während seiner Doktorarbeit neue Methoden entwickelt, um die Mikroorganismen in der „dark matter“ molekularbiologisch zu identifizieren und sie spezifisch anzufärben, ohne sie im Labor zu vermehren. Dabei entdeckte er auch ganz neue Entwicklungslinien und Arten. Die Zeit in den 1990er-Jahren hat er als „ein einziges Staunen“ in Erinnerung. „In jeder trivialsten Probe, wie an einer Schuhsohle, hat man neue Arten gefunden und konnte sie erstmals spezifisch mit einem Fluoreszenzfarbstoff markieren und im Mikroskop betrachten.“

Bakterien beim Fressen zuschauen

Nun genügte es dem Wissenschaftler aber nicht, nur die Diversität der Mikroben zu kartieren, er wollte auch die Funktion der nachgewiesenen Bakterien herausfinden. Das Prinzip, das er dabei verfolgt: „Du bist, was du isst“, das heißt, er leitet aus dem, was das Bakterium frisst ab, was es tut. Dazu verwendet Wagner isotopenmarkiertes Futter, das die Bakterien beim Fressen in die Biomasse aufnehmen. Wie schaut man aber einem ein tausendstel Millimeter großen Lebewesen beim Fressen zu? Dafür werden Verfahren aus der Materialwissenschaft oder der Oberflächenchemie verwendet. Am Zentrum für Mikrobiologie und Umweltsystemforschung steht beispielsweise das österreichweit einzige sogenannte „NanoSIMS“, ein drei Millionen Euro teures Gerät, mittels dem man einen Ionenstrahl auf Zellen schießt und danach mit Massenspektrometrie nachweist, ob Zellen iosotopenmarkiert sind oder nicht. Solche Untersuchungen sind jedoch sehr aufwendig und es können darum nur relativ wenige Proben untersucht werden.

Revolution in der Mikrobiologie

Wagners Forschungsgruppe war weltweit die erste, die Bakterien in ihrem natürlichen Ökosystem beim Fressen zuschaute. „Das war eine Revolution“, sagt er, „wir waren die Ersten, die nicht nur kartiert, sondern begonnen haben, Funktionen der Mikroben zu verstehen.“ Ein weiterer revolutionärer Schritt war das Sortieren der Bakterien nach deren Funktionen. Dazu entwickelten die Wiener in Kooperation mit Roman Stocker von der ETH Zürich eine Zellsortiermaschine in Fingergröße, mittels der man mit Laserstrahl und Raman-Mikrospektroskopie wie mit einer Pinzette isotopenmarkierte Zellen aus einer Probe aussortieren kann, um sie nachfolgend anzuzüchten oder ihre Genomsequenz zu untersuchen.

Darmbakterien und Krankheiten

Mikrobielle Lebensgemeinschaften wurden in den vergangenen Jahren zusehends auch Thema in der Humanmedizin. So weiß man heute, dass die Zusammensetzung und Aktivität der Darmbakterien eine wichtige Rolle bei der Entstehung vieler Krankheiten spielt und es sogar starke Hinweise für die Beteiligung des Darmmikrobioms an der Entstehung bestimmter Krebsarten und seelischer Krankheiten wie Depressionen gibt. In der Medizin sucht man deshalb nach Möglichkeiten, das Darmmikrobiom gezielt zu verändern. Das ist jedoch komplexer als man meinen möchte. Jeder Mensch hat eine spezifische Zusammensetzung von Darmbakterien, die nicht nur von Faktoren wie Genetik, Ernährung, Bewegung oder der Einnahme von Medikamenten beeinflusst wird.

„Bereits die Art der Geburt ist entscheidend – ob durch den Geburtskanal oder per Kaiserschnitt – und ob ein Baby gestillt wird oder nicht“, sagt der Biologe und erläutert weiter: „Deshalb wirken auch bestimmte Medikamente bei einem Patienten und beim anderen nicht, weil Bakterien Wirkstoffe um- und abbauen. Hat man ein Bakterium, das den Wirkstoff des Medikaments abbaut, kann es nicht oder nur schwächer wirken.“ Gezielte Veränderungen des Darmmikrobioms sind auch deshalb nicht so trivial, weil es sich bei jedem Patienten um ein eigenes Ökosystem handelt. Probiotika enthalten heutzutage dieselben Bakterienarten für alle Patienten. „Die Gabe dieser Probiotika ist bei vielen Patienten wie wenn man eine Kuh und einen Stier in den Regenwald setzt, die entwickeln dort dann auch keine Population, weil sie zu viele Feinde haben“, veranschaulicht der Naturliebhaber die Komplexität und sieht die Zukunft in personalisierten Probiotika, die auf das Darmmikrobiom der jeweiligen Patientinnen und Patienten zugeschnitten sind.

„In 10 Jahren wird standardmäßig eine Stuhlprobe für die Mikrobiom-Analyse genommen werden.“ Michael Wagner

Expertise für das AKH

Der Mikrobiologe sieht die humane Mikrobiomforschung als eines der wichtigsten Forschungsgebiete dieses Jahrhunderts. Im von ihm geleiteten Zentrum arbeiten mehrere Arbeitsgruppen an diesem Thema und stellen in enger Zusammenarbeit mit der medizinischen Universität Wien dem Wiener Allgemeinen Krankenhaus ihre Expertise im Rahmen der 2018 gegründeten „Joint Microbiome Facility“ zur Verfügung. „Die humane Mikrobiomforschung verwendet Konzepte und Methoden der Umweltmikrobiologie, die komplexe Mikrobiome schon seit Jahrzehnten intensiv beforscht. An der Schnittstelle zwischen Umwelt-Mikrobiomforschung und medizinischer Mikrobiomforschung sind die größten Durchbrüche zu erwarten. Wir möchten dazu beitragen, dass Österreich die Entwicklungen in diesem für die Gesundheit der Bevölkerung so wichtigen Bereich nicht verschläft und sind dankbar für die Chance, hier in einem der größten Spitäler Europas eine solche Facility aufzubauen,“ sagt der Experte. Wagner ist sich sicher, dass in 10 Jahren im Krankenhaus nicht nur eine Blutprobe, sondern auch eine Stuhlprobe zur Mikrobiom-Analyse standardmäßig genommen wird.

Stickstoffkreislauf

Ein Hauptforschungsgebiet Wagners sind Mikroorganismen, die im globalen Stickstoffkreislauf eine zentrale Rolle spielen. Der natürliche Stickstoff-Kreislauf der Erde wird aufgrund menschlicher Aktivitäten, vor allem durch die Düngung in der Landwirtschaft, massiv beeinflusst. Das zur Düngung verwendete Ammonium wird im Boden von Mikroorganismen zuerst in giftiges Nitrit und anschließend in das etwas harmlosere Nitrat umgewandelt.

Bakterien, sogenannte Nitrifikanten, spielen im Stickstoffkreislauf eine wesentliche Rolle. Sie wandeln Ammonium in Nitrat um. Dabei entsteht Lachgas (ein starkes Treibhausgas). Die von Michael Wagners Forschungsgruppe 2015 entdeckten „Comammox“-Bakterien produzieren dabei wesentlich weniger Lachgas als die zuvor bekannten Arten. © Holger Daims

Todeszonen im Wasser

Dieser zweistufige Prozess der „Nitrifikation“ hat immense ökologische Bedeutung. Nitrat wird besonders leicht aus dem Boden ausgeschwemmt und so geht mehr als die Hälfte des Düngemittels verloren und führt zur Stickstoffbelastung von Grundwasser, Flüssen, Seen und Meeren. Die Überdüngung der Gewässer lässt diese „kippen“. „Im Golf von Mexiko, wo große Bereiche der USA durch den Mississippi und den Atchafalaya entwässert werden, gibt es riesige sogenannte Todeszonen, in denen durch Überdüngung Algen explosionsartig wachsen, die wiederum von Bakterien abgebaut werden, die dabei den Sauerstoff verbrauchen, weshalb kein höheres Leben mehr existieren kann“, nennt Wagner ein Beispiel für diese Dynamik.

Problem Lachgas

Die Stickstoffdüngung verursacht ein weiteres Problem: Bei der Nitrifikation setzen die Mikroben Lachgas frei, ein Treibhausgas, das 300-mal stärker wirkt als Kohlendioxid und die Ozonschicht zerstört. So problematisch diese nitrifizierenden Mikroben in der Landwirtschaft sind, in Kläranlagen spielen sie eine wichtige Rolle in der Reinigung von Abwasser, indem sie zusammen mit sogenannten denitrifizierenden Bakterien das Ammonium aus dem Abwasser in einem arbeitsteiligen Prozess in Luftstickstoff umwandeln. Doch gerade unter sauerstoffarmen Bedingungen, wie sie in Kläranlagen, aber auch gedüngten Böden nach Niederschlägen vorkommen, wird besonders viel Lachgas freigesetzt. Mikrobiologen fragen sich darum schon lange, ob es vielleicht Nitrifikanten gibt, die weniger Lachgas freisetzen und ob man deren Wachstum in solchen Systemen gezielt fördern kann.

„Comammox“ – ein wissenschaftlicher Durchbruch

An der Erforschung neuer Nitrifikanten arbeitete die Forschungsgruppe um Wagner als ihnen 2015 in Zusammenarbeit mit Holger Daims von der Universität Wien ein weiterer wissenschaftlicher Durchbruch gelang: Sie entdeckten „Comammox“-Bakterien (complete ammonia oxidizers). Es handelt sich um besonders effiziente Nitrifikanten, die Ammonium ganz alleine, ohne mikrobiellen Partner, zu Nitrat umwandeln. Ein Clou dabei: Es entstehen nur geringe Mengen an Lachgas. „Ein grüner Nitrifikant sozusagen“, lacht Wagner. Die Wiener sind weltweit bisher die einzigen, die „Comammox“ im Labor züchten können. Sie forschen nun an den Wachstumsbedingungen dieser Bakterienart. Die Zukunftsvision ist, auf Basis dieser Erkenntnisse das Wachstum von Comammox in der Umwelt gezielt zu fördern, um so neue umweltfreundlichere Ansätze in der Praxis der Landwirtschaft, in Kläranlangen und der Trinkwasseraufbereitung zu entwickeln.

Prägendes Kindheitserlebnis

Das Studium der Biologie war für den heute 54-Jährigen eine Bauchentscheidung, interessierte er sich doch schon immer für die Vielfalt des Lebens. Der Weg in die Mikrobiologie war nicht geplant, vielleicht aber unbewusst gesteuert durch Kindheitserfahrungen, die ihn sehr geprägt haben. Als er sieben Jahre alt ist, erkrankt seine Mutter plötzlich und unerwartet an einer Gehirninfektion durch einen unbekannten Krankheitserreger. Damit ändert sich das Leben der Familie von einem Tag auf den anderen radikal. „Die Frage an welcher Krankheit meine Mutter litt und wie sie wohl am besten zu behandeln wäre, hat unser Leben über viele Jahre begleitet“, erinnert sich der vierfache Vater. „Vielleicht ist es darum nicht ganz zufällig, dass ich heute Methoden zur Identifizierung und Funktionsuntersuchung unbekannter Mikroben entwickle“, sieht er hier einen Zusammenhang.

Vom „gallischen Dorf“ zur Weltklasse

Nach seinem Studium der Biologie an der TU München, verbringt der junge Postdoc zunächst ein Forschungsjahr an der US-amerikanischen Northwestern University in Evanston, kehrt an die Münchner Technische Universität zurück, wo er sich habilitiert und Assoziierter Professor wird. 2003 folgt er einem Ruf nach Wien und wird Professor für Mikrobielle Ökologie an der Universität Wien. Mit ihm kommen Holger Daims, Matthias Horn und etwas später dann Alexander Loy, ehemalige Doktoranden seines Teams, heute hoch ausgezeichnete Wissenschaftler. „Wir sind zusammen in einem Büro gesessen und haben die neue Abteilung geplant“, erinnert er sich an die Anfänge. „Wir waren das kleine gallische Dorf, das schweißt zusammen.“ Diesen Zusammenhalt sieht man auch auf dem Foto, das bei der Feier zur Verleihung des Wittgenstein-Preises 2019 gemacht wurde, wo ihn seine Kollegen buchstäblich hochleben lassen: „Die anderen freuen sich von Herzen mit mir mit. Das ist das Schönste.“ Heute zählt das „gallische Dorf“ ca. 150 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus insgesamt 29 Ländern, 15 davon sind Projektleiterinnen und Projektleiter und sechs davon haben einen der hoch begehrten ERC-Grants des Europäischen Forschungsrats erhalten.

2019 erhielt Michael Wagner mit dem Wittgenstein-Preis des FWF die höchste Wissenschaftsauszeichnung in Österreich. Dass sich seine Kollegen, die ihn hier hochleben lassen, herzlich mitfreuen, zeigt auch den starken Zusammenhalt in seiner Forschungsgruppe. © Michèle Pauty

„Die Vielfalt der Mikroben ist ein riesiger Schatz für die Menschheit.“ Michael Wagner

Weiterentwicklung der Technologie

Für die nächsten Jahre sieht der Wittgenstein-Preisträger einen Schwerpunkt seiner Arbeit in der Methodenentwicklung. An der Boston University wurde von Physikerinnen und Physikern eine neue Raman-Technologie entwickelt. Es handelt sich um eine besonders schnelle Art der chemischen Mikroskopie, bei der man nicht die Form, sondern die chemische Zusammensetzung der Zellen sieht. Diese Technik soll nun in Zusammenarbeit mit den amerikanischen Teams für die Mikrobiomforschung adaptiert werden. „Das ist Hochrisikoforschung“, sagt Wagner, denn ob diese anspruchsvolle Technik mit Fluoreszenzmikroskopie kombiniert werden könne und somit für die Analyse von Mikroben-Gemeinschaften anwendbar sei, habe bisher noch niemand probiert. „Wenn es funktioniert, können wir den Bakterien nahezu in Echtzeit beim Fressen zuschauen und uns zum Beispiel ansehen, wie sich unterschiedliche Diäten auf die Aktivitäten der Darmmikroben auswirken.“ Das wäre ein weiterer wissenschaftlicher Durchbruch. Was dabei auch deutlich wird: Die Mikrobiomforschung ist stark technologiegetrieben. Hier bringt oft der technologische Fortschritt den entscheidenden Durchbruch.

Mehr Bekenntnis zum Risiko

Mehr Bekenntnis zum Risiko würde sich Wagner von der Forschungsförderung insgesamt wünschen. Dass der Wissenschaftsfonds FWF mit dem neu konzipierten 1.000-Ideen-Progamm in diese Richtung geht, sieht Wagner sehr positiv: „Es muss bei diesem Programm für die Antragstellung keine Vorarbeiten geben, das ist sehr gut, denn im Bereich der Hochrisikoforschung gibt es bislang eine große Förderlücke.“

„Der FWF sollte manchmal losen“

Er würde allerdings in der Forschungsförderung noch einen Schritt weiter gehen: „Der FWF sollte sich überlegen, in manchen Fällen zu losen! Aus meiner Zeit als Mitglied eines ERC- Auswahlpanels weiß ich, dass man unter Anträgen relativ zuverlässig die Herausragenden und die eher Schwächeren erkennt. Aber häufig muss man bei Förderentscheidungen den Schnitt in einem Bereich ziehen, in dem die Auswahlentscheidung nicht einfach ist, da man zwischen sehr guten Anträgen unterschiedlicher Disziplinen entscheiden muss. Hier wäre es meiner Meinung nach fairer, den Zufall entscheiden zu lassen. Damit erzeugt man zudem auch noch Offenheit für Ideen, die sich außerhalb des Mainstreams befinden.“ Dass das schwer zu „verkaufen“ sei, räumt Wagner allerdings ein, weist aber darauf hin, dass bereits einige Fördergeber, wie der Schweizer Nationalfonds, begonnen haben, mit diesem Ansatz zu experimentieren.

Riesiger Schatz für die Menschheit

Bis heute ist der passionierte Kajakfahrer fasziniert vom Universum der Mikroorganismen und sieht es als großes Privileg, sich als Wissenschaftler tagtäglich mit dem zu beschäftigen, was ihn fasziniert. „Wenn man sich den Stammbaum des Lebens anschaut, gibt es die Bakterien, die Archaeen und nur einen überraschend kleinen Teil stellen die Pflanzen, Tiere und Menschen dar. Ich erforsche das Wunder Leben“, strahlt er. Dabei gibt es noch vieles – auch für Anwendungen Relevantes – zu entdecken. „In diesen paar Gramm Erde“, zeigt Wagner auf den Blumentopf in seinem Büro, „stecken möglicherweise neue Antibiotika und neue Enzyme für die Biotechnologie. Diese Vielfalt ist ein riesiger und zum Großteil noch nicht gehobener Schatz für die Menschheit.“

Grundlagenforschung extrem wichtig

Jenseits von Anwendungen hält Wagner die zweckfreie Grundlagenforschung für „extrem wichtig und schützenswert“ und bringt als ein Beispiel das Penicillin, 1928 zufällig vom Bakteriologen Alexander Fleming entdeckt, weil er sein Labor vor den Sommerferien nicht aufgeräumt hatte und dadurch Pilze auf stehengelassenen Bakterienkulturplatten wuchsen. Flemings exzellente Beobachtungsgabe, der bemerkte, dass diese Schimmelpilze die Bakterien zerstörten, führte dann zu seiner bahnbrechenden Entdeckung, die nicht planbar war. So wie auch van Leeuwenhoek nicht ahnen konnte, was für eine wichtige Entdeckung er durch Neugier, Entwicklung neuer Methoden und seine Beobachtungsgabe machen würde.

Zur Person

Der Mikrobiologe Michael Wagner ist Leiter des Zentrums für Mikrobiologie und Umweltwissenschaft an der Universität Wien. Er studierte Biologie an der Technischen Universität München, war als Postdoc an der Northwestern University in Evanston, USA, habilitierte sich 2000 an der TU München, wo er bis 2002 Assoziierter Professor war. 2003 übernahm Wagner eine Professur für Mikrobielle Ökologie an der Universität Wien. Neben zahlreichen Auszeichnungen erhielt er 2011 einen ERC Advanced Grant des Europäischen Forschungsrats, 2014 eine Einstein Professur der Chinesischen Academy of Sciences, 2015 den Schrödingerpreis der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 2018 den Jim Tiedje Award der International Society for Microbial Ecology (ISME) für sein Lebenswerk, und 2019 den Wittgenstein-Preis des FWF.