Am Gletscher: MĂŒcken geben Einblick ins Ăkosystem
SpĂ€testens ab 2.000 Meter ĂŒber dem Meeresspiegel wird es ungemĂŒtlich. Neben der KĂ€lte sorgen extreme Wetterereignisse, knappe NĂ€hrstoffe und kurze Wachstumsperioden dafĂŒr, dass sich die meisten Lebewesen aus den Hochgebirgsregionen fernhalten. Reinhard Lackner von der UniversitĂ€t Innsbruck hĂ€lt dagegen: âAus menschlicher Sicht ist das ein extremer Lebensraum. Aber man darf nicht alles von unserer Warte aus betrachten.â Der Zoologe erforscht seit Jahrzehnten das Leben in Ăsterreichs GletscherbĂ€chen und weiĂ, dass der sterile Schein trĂŒgt. âAuf den ersten Blick wirken diese Gegenden sehr sauber. Doch erstaunlicherweise können manche Tiere trotz der extremen Bedingungen ĂŒberlebenâ, sagt Lackner.
Vor allem die ZuckmĂŒcke â benannt nach den zuckenden Bewegungen ihrer Vorderbeine âhat sich den rauen UmstĂ€nden angepasst. Ihre Larven besiedeln den gesamten Verlauf von GletscherbĂ€chen und machen an manchen Stellen 100 Prozent der Fauna aus. In einem vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Projekt untersucht Lackners Team den Lebenszyklus der Insekten, um herauszufinden, wie sie in den Regionen ĂŒberleben. Damit erhoffen sich die Forschenden, Einblicke in KlimaverĂ€nderungen zu gewinnen. Denn gemeinsam mit den Gletschern schwinden auch die MĂŒckenlarven.
RĂŒckzug in kalte GewĂ€sser
Weltweit gibt es Tausende Arten von ZuckmĂŒcken; in Europa liegt die Zahl bekannter Spezies im dreistelligen Bereich. Je nach Art legen sie ihre Eier in SĂŒĂ- oder Salzwasser ab, von Thermalwasser bis hin zur Antarktis. âDie verschiedenen ZuckmĂŒckenarten besiedeln spezifische LebensrĂ€ume. Schon geringste VerĂ€nderungen im Lebensraum Ă€uĂern sich darin, welche Arten vorkommenâ, erklĂ€rt Lackner. Deshalb werden ZuckmĂŒcken auch genutzt, um die WasserqualitĂ€t zu bestimmen: Je nach NĂ€hrstoffgehalt des Wassers kommt ein anderes Spektrum an Arten vor.
Nur etwa ein Dutzend der Arten schafft es, im höchstgelegenen Teil eines Gletscherbaches â direkt bei der Quelle im Gletschertor â zu ĂŒberleben. Dabei suchen sie sich den extremen Lebensraum nicht aus, sondern ziehen sich womöglich vor RĂ€ubern in den tiefer liegenden, wĂ€rmeren GewĂ€ssern dorthin zurĂŒck, vermutet Lackner. Der Zoologe nimmt an, dass die Tiere wegen der ErderwĂ€rmung und der steigenden Wassertemperatur nun immer weiter hinaufwandern mĂŒssen. Dazu kommt, dass beim Auftauen umliegender Permafrostböden giftige Stoffe freigesetzt werden, die den Larven zusĂ€tzlich schaden können. âDamit wird der Extremstandort immer mehr zum RĂŒckzugsgebiet fĂŒr diese Arten. Uns interessiert, welche Faktoren die Verbreitung und das Ăberleben der ZuckmĂŒcken beeinflussenâ, so Lackner. In seinem Forschungsprojekt untersucht er die Grenzen, an denen die Larven vorkommen, und verfolgt anhand der Ergebnisse auch die Geschichte der europĂ€ischen Gletscher.
Gletscherschmelze damals wie heute
Unter anderem konnte das Forschungsteam Einblick in die Gletscherschmelze am Ende der letzten Eiszeit gewinnen, indem es fossile Funde von ZuckmĂŒckenlarven aus dem Böhmerwald untersuchte. Die Bergkette an der deutsch-tschechisch-österreichischen Grenze war bis vor rund 12.000 Jahren noch von Gletschereis bedeckt. Nun lĂ€sst sich am Artenspektrum der ZuckmĂŒcken im Sediment der Seen ablesen, dass diese einst von GletscherbĂ€chen gespeist wurden. Durch Funde aus unterschiedlichen Epochen können die Forschenden zudem beurteilen, wie der Verlauf der KlimaĂ€nderung das Vorkommen der MĂŒcken beeinflusste.
Ăhnliche Prozesse sind auch heute von Bedeutung. Aktuell nimmt die Masse der Gletscher stetig ab, was die empfindlichen Ăkosysteme der Hochgebirge beeinflusst. Um diese VorgĂ€nge zu untersuchen, fischt Lackners Team nach den Larven der ZuckmĂŒcken im Schmelzwasser des Rotmoosferner Gletschers bei Obergurgl in Tirol. Der Gletscherbach dient den Forschenden als Modellsystem, um das besondere Ăkosystem der Hochgebirgsregion besser zu verstehen, und wird mit Ergebnissen aus der Hohen Tatra (Grenze Polen/Slowakei) und den PyrenĂ€en (Grenze Frankreich/Spanien) verglichen.
Ein RĂŒckgang der hoch spezialisierten MĂŒcken könnte weitreichende VerĂ€nderungen nach sich ziehen. ZuckmĂŒckenlarven leben von Kieselalgen im Wasser und dem Material, das bei der Gletscherschmelze freigesetzt wird. Damit stellen sie die Grundlage der Nahrungskette dar. âOhne sie gĂ€be es zum Beispiel keinen Fischbestand in den BĂ€chenâ, erklĂ€rt Lackner. In seinem Forschungsprojekt widmet er sich deshalb insbesondere der Frage, wie die auĂergewöhnliche AnpassungsfĂ€higkeit der MĂŒcken zustande kommt.
Das Bottleneck sind Untersuchungsmethoden
Dabei stellen die Larven mit einer GröĂe von wenigen Millimetern und einem Gesamtgewicht von teilweise nur 0,1 Milligramm eine besondere Herausforderung dar. Zum einen ist das Probenmaterial fĂŒr Untersuchungen entsprechend limitiert, zum anderen sind die unzĂ€hligen Arten unter dem Mikroskop nur schwer zu unterscheiden.
Im Zuge des Projekts gelang es der Forschungsgruppe, in Kollaboration mit Partnern aus Tschechien wesentliche Fortschritte hinsichtlich der Untersuchungsmethoden zu veröffentlichen. Das betrifft zum einen die Artenbestimmung mittels genetischer Analysen. Zum anderen konnten sie ein Versuchsprotokoll aufsetzen, mit dem sich der Energiehaushalt einzelner Larven auf individueller Ebene bestimmen lĂ€sst. âDahinter steht die Ăberlegung, dass Tiere, die hungern oder krank sind, weniger Reserven in Form von Fett und Kohlenhydraten habenâ, erklĂ€rt Lackner. âDeshalb kann man durch den ErnĂ€hrungszustand der Tiere die UmgebungsverhĂ€ltnisse ĂŒber mehrere Monate verfolgen.â
Die gemessenen Fett- und Kohlenhydratwerte bestĂ€tigten, dass der Energiehaushalt der Tiere auf ein Minimum herunterreguliert ist. âDas deutet auf ihre Anpassung hin. Die wichtigste MaĂnahme in extremen LebensrĂ€umen ist es, lange Perioden mit ungĂŒnstigen UmstĂ€nden ĂŒberdauern zu könnenâ, ordnet Lackner die Ergebnisse ein.
Langzeitbeobachtung in Obergurgl und darĂŒber hinaus
Die Untersuchung der Population von ZuckmĂŒcken am Rotmoosferner Gletscher ist eingebettet in ein Langzeitforschungsprojekt. Auf interdisziplinĂ€rer Ebene sammeln Forschende seit der GrĂŒndung der Forschungsstation 1951 Daten ĂŒber den RĂŒckgang des Gletschers und die laufende Besiedelung des Gletschervorfelds durch Pflanzen und Tiere. Ziel des Projekts ist es, das besondere Ăkosystem von Hochgebirgsregionen umfassend zu verstehen. âWir wissen, dass es auf der Erde nur in wenigen Gegenden kein Leben gibt. Mit der Forschung in dieser extremen Region gehe ich der Frage nach, was Lebewesen alles schaffen könnenâ, schlieĂt Lackner. FĂŒr die ZuckmĂŒcken liegen die Grenzen jedenfalls hoch, hoch oben.
Zur Person
Reinhard Lackner ist Zoologe an der UniversitĂ€t Innsbruck und erforscht das Leben in HochgebirgsgewĂ€ssern â von ZuckmĂŒckenlarven bis zur Bachforelle. Die Untersuchungen sollen zeigen, welche Faktoren das extreme Ăkosystem beeinflussen und wie es bereits jetzt durch den Klimawandel verĂ€ndert wird. Das Anfang 2024 beendete Projekt âDie Grenzen des Vorkommens von Insektenlarvenâ wurde vom Wissenschaftsfonds FWF mit rund 320.000 Euro gefördert.
Publikationen
Dvorak M., Dittmann I.L., Pedrini-Martha V. et al.: Molecular and morphological characterisation of larvae of the genus Diamesa Meigen, 1835 (Diptera: Chironomidae) in Alpine streams (Ătztal Alps, Austria), in: PLOS ONE 2024
Dvorak M., Dittmann I.L., Pedrini-Martha V. et al.: Energy status of chironomid larvae (Diptera: Chironomidae) from high alpine rivers (Tyrol, Austria), in: Comparative Biochemistry and Physiology A: Molecular & Integrative Physiology 2023