So interessant dieses Land auch ist, so gering waren meine Assoziationen zu Finnland vor dem Antritt meines Stipendiums. Die Namen einiger finnischer Musikgruppen und das Wissen über das positive Abschneiden bei etwaigen PISA-Studien schöpften meine Kenntnisse beinahe vollkommen aus. Tatsächlich sprach die Aussicht auf lange und dunkle Winter im hohen Norden eher sogar gegen diese Destination. Dafür sprach jedoch die Möglichkeit, mit Robert van Leeuwen zusammenzuarbeiten. Ich lernte Robert vor einigen Jahren auf einer Konferenz kennen. Nach einer mäßig erfolgreichen Präsentation nahm er sich die Zeit, einen etwas zerknirschten Physik-Doktoranden auf den einen oder anderen Fehler hinzuweisen.
Obwohl das eindeutige Ergebnis unserer mehrstündigen Diskussion mich eher depressiv als gutgelaunt zurücklassen hätte sollen, war das Gespräch sehr konstruktiv und motivierend. Daher lag für mich der Entschluss nahe, nach dem Ende des Doktorats in seine Arbeitsgruppe zu wechseln. Damals wie heute liegt der Schwerpunkt meiner Forschungstätigkeit in der Vielteilchenphysik. Die grundlegende Fragestellung dieses weitläufigen Gebietes lautet: „Wie findet man (Näherungs-)Lösungen der quantenmechanischen Bewegungsgleichungen vieler wechselwirkender Teilchen?“ Leider lassen sich nur für sehr einfache Beispiele Lösungen finden, und selbst dazu benötigt man meist die Rechenleistung eines Supercomputers. Das Hauptaugenmerk der aktuellen Arbeitsgruppe liegt auf der Entwicklung der theoretischen und mathematischen Grundlagen dieses Gebietes.
Luonto – Die Natur
Als ich gemeinsam mit meiner Freundin in Jyväskylä aus dem Bus stieg (ein Sturm hatte die einzige Gleisverbindung nach Helsinki unterbrochen), war schon klar, dass die Natur in Finnland eine sehr viel größere Rolle als in Mitteleuropa spielen wird. Und nicht nur weil Jyväskylä selbst mehr See und Wald als Stadt ist. Die Natur ist der Taktgeber des Lebens in Finnland. Im Sommer – wir durften im ersten Jahr den wärmsten aller Zeiten erleben – hat der Tag kaum ein wahrnehmbares Ende und an den Wochenenden sind die Städte wie leergefegt. Wer kann, fährt zu seinem Mökki – seinem Sommerhaus –, um zu fischen, saunieren oder einfach die Natur zu genießen. Finnland im Sommer kann man nur kennenlernen, wenn man einige Tage in einem Mökki, fernab der Zivilisation verbracht hat; ohne fließend Wasser, ohne Sanitäranlagen, aber mit vielen Mücken. Im Winter wiederum erstarrt die Natur zu einem klirrenden Eispalast und der Schnee glitzert, wenn zu Mittag die Sonne ein wenig über den Horizont blickt. Außerdem lernt man das nationale Heiligtum der Finnen – die Sauna – bei Temperaturen bis zu minus 35 Grad lieben. Beide Extreme haben uns sehr beeindruckt. Wer in Finnland nicht zu einem Naturliebhaber wird, der wird es wohl nie.
Ihmiset – Die Menschen
Auch wenn sicherlich die Natur das Augenfälligste an Finnland ist, so sind die Menschen und die finnische Gesellschaft ebenso interessant. Sowohl an der Universität als auch im täglichen Leben lernt man schnell, dass Privatsphäre von den Finnen sehr ernst genommen wird. Jemanden nicht anzusehen oder nicht zu grüßen, wird oft sogar als höflich erachtet. Es verwundert daher nicht, dass der finnische Stereotyp eher wenig extrovertiert ist. Dies merkt man auch schnell bei Vorlesungen. Fragen werden lieber per E-Mail geschickt oder später privat besprochen, als direkt während der Stunde gestellt. Andererseits lebt man an finnischen Universitäten (ansonsten noch mindestens in der Sauna) eine klassenlose Gesellschaft. Man ist mit jedem per Du und man spürt im Allgemeinen keinen Unterschied zwischen Professor und Student. Gelehrt und gearbeitet wird auf Augenhöhe. Die oft hinderliche Hierarchie von deutschsprachigen Universitäten findet man nicht. Überhaupt sind die Finnen sehr stolz auf ihr Schul- und Universitätssystem. Bildung und Forschung haben einen hohen Stellenwert, sowohl in der Politik als auch in der Gesellschaft.
Tutkimus – Die Forschung
Die zweitgrößte Universität des Landes (circa 16.000 Studenten) ist sehr international ausgerichtet. Dies spiegelt sich auch in einer bunt durchmischten Arbeitsgruppe wider. Englisch ist die Hauptsprache, sowohl im täglichen Forschungsleben (mein Finnisch macht nur sehr langsam Fortschritte) als auch in der Lehre. Die zuvor angesprochene Hierarchielosigkeit sorgt für eine informelle und sehr konstruktive Stimmung in der Gruppe. Jeder kann für sich und für andere neue Ideen einbringen sowie den eigenen Interessen folgen. Der bisherige Erfolg gibt der ungezwungengen Atmosphäre recht. Neben der Forschungstätigkeit hat man auch organisatorische Freiheiten, die sogar dazu führten, dass ich einen langjährigen Arbeitskollegen der Universität Innsbruck für einige Wochen in unsere Arbeitsgruppe einladen konnte. Dies trägt hoffentlich auch dazu bei, dass die Rückkehr ans Institut für theoretische Physik der Universität Innsbruck ebenso erfolgreich und erfreulich wird wie die Zeit, die ich in Finnland bisher verbringen durfte.
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