Wenn ich morgens auf dem Weg zur Bodleian Library die mittelalterlichen Gassen Oxfords durchquere oder gelegentlich beim Choral Evensong meinen Arbeitstag ausklingen lasse, fällt mir immer wieder das Oscar-Wilde-Zitat aus „De Profundis“ ein: „The two great turning points in my life were when my father sent me to Oxford, and when society sent me to prison.” Nicht, dass Letzteres ein erstrebenswertes Lebensziel wäre, aber es trifft sicherlich zu, dass man als anglophiler, literaturbegeisterter Mensch unweigerlich dem Mythos Oxford erliegt.
Mein Forschungsprojekt, das Phänomen „Celebrity“ in Literatur und Politik am Beispiel von Benjamin Disraeli, einem der herausragenden englischen Romanschriftsteller und Staatsmänner der viktorianischen Ära, aus literatur- und kulturhistorischer Perspektive zu beleuchten, erlaubt es mir zurzeit, einen Blick hinter die Kulissen dieser mythenbehafteten „city with her dreaming spires“, wie es in einem Gedicht Matthew Arnolds heißt, zu werfen. Schon der genius loci der Stadt, in der Lewis Carroll, Oscar Wilde, J.R.R. Tolkien und C.S. Lewis wirkten, bedingt, dass man sich als anglistische Literaturhistorikerin in einem wahren Forschungsparadies wiederfindet. Zudem wird man Tag für Tag mit der Qual der Wahl zwischen drei oft zeitgleich stattfindenden, hochkarätig besetzten Events konfrontiert. Zugegeben: ein absolutes Luxusproblem, denn wo sonst kann man seine Mittagspause bei einer Lesung von J.M. Coetzee, einer Master Class mit Gastprofessor Ian Bostridge oder einem Workshop zu Publikationsmöglichkeiten bei Oxford University Press verbringen?
Eigeninitiative und Netzwerke
Die Faszination Oxfords darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass gerade bei Gastforschern, die das erste Mal mit dem stark ritualisierten College-System konfrontiert sind, eine gute Portion Eigeninitiative und ein umfangreiches Support-Netzwerk gefragt sind, um die enorme Bandbreite des Angebots optimal nutzen zu können. Spätestens nachdem innerhalb einer Woche zum zehnten Mal die obligate Frage „What’s your college?“ gestellt wird, beginnt man zu realisieren, dass – zumindest in den Geisteswissenschaften – Fakultäten und Institute eine untergeordnete Rolle spielen und der intellektuelle Austausch hauptsächlich innerhalb der Colleges und in den unzähligen Forschungsseminaren stattfindet.
Mittlerweile habe ich meine College-Heimstätte am Wolfson College gefunden, einem modernen Graduate College, dem die renommierte Literaturwissenschafterin und Biografin Hermione Lee als Präsidentin vorsteht. Dazu hatte ich das Glück, von Anfang an in das „Celebrity Research Network“ am Oxford Research Centre in the Humanities (TORCH) eingebunden zu sein, das für mich einen wichtigen intellektuellen und sozialen Bezugspunkt darstellt. So hatte ich zum Beispiel die Möglichkeit, meine Forschungsarbeit im Rahmen eines Knowledge Exchange-Meetings mit den National-Trust-Kuratoren von Hughenden Manor, dem ehemaligen Landsitz Disraelis, einzubringen. TORCH-Kollegen aus den verschiedensten Fachrichtungen sind inzwischen Freunde, mit denen man abends ins Pub geht oder am Wochenende Ausflüge in die malerischen Cotswolds oder nach London unternimmt.
Der Mikrokosmos Oxford unterliegt seinen eigenen, nicht nur für Zentraleuropäer oft archaisch anmutenden Regeln; in seiner enormen Diversität eröffnet er aber auch gleichzeitig unzählige Chancen, das eigene Potenzial auszuschöpfen und Ideen zu verwirklichen. In meinem konkreten Fall bedeutet das, dass ich mit Unterstützung von TORCH und dem „Oxford Life-Writing Centre“ ein Disraeli-Symposium organisieren werde und meine Arbeit somit in einem internationalen
Kontext positionieren kann. Für mich ist mit der Zeit in der „Stadt der träumenden Türme“ mein eigener Traum wahr geworden – ein „turning point“, nicht nur in Oscar Wildes, sondern auch in meinem Leben.
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